Indien hat den Autonomie-Sonderstatus Kaschmirs trotz Kritik von verschiedenen Seiten abgeschafft. Warum dies so schnell vonstattenging und was dahintersteckt, sagt SRF-Korrespondent Thomas Gutersohn.
SRF News: Wie kam die indische Parlamentskammer zum Entscheid, die Sonderrechte für Kaschmir abzuschaffen?
Thomas Gutersohn: Die Regierungspartei BJP politisiert klar für eine hinduistische Mehrheit im Land, und das Parlament ist der Regierung treu gefolgt. Die BJP hat dort eine deutliche Mehrheit, zudem ist die Opposition zerstritten.
Die Sonderrechte Kaschmirs waren bei der Gründung von Indien und Pakistan die Bedingung dafür, dass sich das damals unabhängige Kaschmir Indien anschloss.
Ist das indische Parlament überhaupt dazu berechtigt?
Das ist die grosse Frage, denn diese Sonderrechte waren bei der Gründung von Indien und Pakistan die Bedingung dafür, dass sich das damals unabhängige Kaschmir Indien anschloss. Die Sonderrechte wurden in zwei Schritten abgeschafft: einerseits durch ein Dekret des Präsidenten und andererseits durch eine Umorganisation Kaschmirs. Kaschmir ist jetzt nicht mehr ein Gliedstaat – vergleichbar mit einem Kanton in der Schweiz – sondern nur noch ein Union Territory. Deswegen ist es direkt der Landesregierung unterstellt. Die Art und Weise, wie dieser Beschluss im Schnellverfahren in zwei Tagen durchgepaukt wurde, lässt Verfassungsrechtler aufhorchen.
Auch die lokale Regierung in Kaschmir und das lokale Parlament müssten zustimmen, doch die Regierung und das Parlament wurden in Kaschmir vor einem Jahr von der BJP schon aufgelöst. Das nationale Parlament hat damals einfach entschieden, dass es als Stellvertreter dieser Regierung und des Parlamentes in Kaschmir agiert. Kritiker sagen nun, dass so die Abschaffung der Sonderrechte von langer Hand geplant wurde.
Warum hat man das im Eiltempo durchgedrückt?
Es ist Ausdruck davon, wie sehr sich die BJP seit dem Wahlerfolg von Mai ermächtigt fühlt, demokratische Prozesse im Land auszuhebeln und ihren eigenen Willen durchzusetzen. Dieser Entscheid weist in die Richtung, wie das Land weiter regiert werden könnte und das ist schon eher autokratisch.
In Kaschmir wurden politische Führer festsgenommen, sogar die frühere Regierungschefin von Kaschmir wurde inhaftiert.
Wie reagiert man im indischen Teil von Kaschmir darauf?
Das weiss man nicht. Es gibt keine Telefonverbindungen und kein Internet. Im Moment herrscht dort eine Ausgangssperre, die Leute dürfen keinen Fuss vor die Tür setzen. Es wurden politische Führer festgenommen, sogar die frühere Regierungschefin von Kaschmir wurde inhaftiert. Im April, als ich in Kaschmir war, haben mir die Leute gesagt: «Wenn Indien diese Sonderrechte anfasst, dann wird Kaschmir brennen.» Doch im Moment wird jede Form von Protest durch eine enorme Militärpräsenz in Kaschmir im Keim erstickt.
Der Armeechef Pakistans hat gesagt, man wolle die Muslime im indischen Teil Kaschmirs unterstützen. Droht eine Eskalation?
Khan, der Premierminister von Pakistan, hat nun diplomatische Schritte angekündigt. Er will vor die UNO gehen und den Internationalen Gerichtshof ansprechen. Er warnt selbst vor unvorstellbaren Konsequenzen im Falle eines Krieges zweier Nuklearmächte. Auch China hat Indien scharf kritisiert. China hat selbst Anspruch auf einen kleinen Teil in Kaschmir. Das Potenzial für eine Eskalation ist sicherlich da. Ein Akteur aber wird ganz sicher profitieren: die terroristische Gruppierungen.
Wie geht es weiter?
Wahrscheinlich wird das Oberste Gericht eingeschaltet werden, es gibt auch schon erste Klagen. Wie so oft in Indien wird nicht das Parlament über die demokratischen Verhältnisse entscheiden, sondern die Gerichte.
Das Gespräch führte Claudia Weber.