Das Ereignis: Die Türkei stimmt am kommenden Ostersonntag über eine Verfassungsänderung ab. Diese sieht eine grössere Machtfülle für den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor.
Warum wirbt die türkische Regierung für ein «Ja» an der Urne? Die Verfassungsreform sorge am Bosporus für Stabilität, Sicherheit und kürzere Entscheidungswege. Zudem werde die heimische Wirtschaft von der Verfassungsreform profitieren – und sich positiv auf die Investoren auswirken. Dieser Ansicht ist jedenfalls Präsident Erdogan.
Der Stabilität einer Autokratie trauen Investoren nicht.
Überzeugen diese Argumente das «Nein-Lager»? Nein. Vielmehr hält Wirtschaftsexperte Mustafa Sönmez den politischen Systemwechsel von der parlamentarischen Demokratie hin zum Präsidialsystem für einen volkswirtschaftlichen Fehler. Der Grund: Ausländische Investoren würden von Rechtssicherheit und vom Rechtsstaat angezogen. Dieser beinhalte Gewaltentrennung, Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz sowie Meinungsfreiheit. «Der Stabilität einer Autokratie trauen sie nicht.» Das Land benötige Investoren dringender denn je.
In welchem Zustand befindet sich die türkische Wirtschaft? Die EU-Kommission geht für das laufende Jahr von einem Wachstum in Höhe von 2,8 Prozent aus. Vor einigen Jahren wuchs das Land am Bosporus allerdings um bis zu neun Prozent. Deshalb erachtet Sönmez die aktuellen Prognosen als zu tief. «Unser Land benötigt mindestens fünf bis sechs Prozent Wachstum, denn wir haben eine Arbeitslosigkeit von 12,5 Prozent. Bei den Jungen ist mittlerweile jeder Vierte ohne Arbeit.»
Unser Land benötigt mindestens 5 bis 6 Prozent Wachstum, denn wir haben eine Arbeitslosigkeit von 12,5 Prozent. Bei den Jungen ist mittlerweile jeder Vierte ohne Arbeit.
Woran krankt die türkische Wirtschaft? Die Auslandsinvestitionen brachen im letzten Jahr um fast ein Drittel ein. Zudem führten die Terrorgefahr, der Konflikt mit den Kurden, der Putschversuch und seine Folgen, die Repression gegen Regierungskritiker, Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und Firmenenteignungen zu einem Tourismuseinbruch von über 30 Prozent. Ausserdem leide die Lira laut Sönmez unter einem Währungszerfall. Allein im letzten Jahr verlor die Landeswährung beinahe 25 Prozent ihres Werts gegenüber dem US-Dollar. Das habe zu einer zweistellige Inflation geführt: «Wir haben jetzt elf Prozent Inflation. Die Löhne dagegen steigen lediglich um fünf oder sechs Prozent». Dies wiederum beeinträchtige den privaten Konsum – der grosse Pfeiler der türkischen Wirtschaftsleistung.
Gibt es Unternehmer, welche die Verfassungsreform befürworten? Einige Unternehmen halten die Verfassungsreform laut Sönmez für das kleinere Übel. Bauunternehmen würden sich ebenfalls für die Verfassungsreform aussprechen, weil diese bislang von der Wirtschaftspolitik der Regierung profitierten. Das Baugewerbe gilt tatsächlich als zentraler Pfeiler der Wirtschaftspolitik der türkischen Regierungspartei AKP – nicht ohne Grund: Der Bauboom schuf neue Jobs für ungelernte Arbeiter und neue Häuser, Brücken, Flughäfen und Strassen entstanden. Das habe die AKP-Wähler beeindruckt. «Das war eine politische Strategie. Die Regierungspartei AKP schuf auf diese Weise eine neue Mittelschicht und gewann gleichzeitig neue Wähler hinzu. Doch das ging zulasten einer nachhaltigen Wirtschaft», sagt Sönmez.