Noch bevor die Sonne aufgeht, richten sie das Bollwerk für den Zugang zur Abtreibung ein. Fast täglich sind Derenda Hancock und Kim Gibson hier. Sie arbeiten als freiwillige Helferinnen. Ihr Ziel: Frauen zur Klinik in Jackson zu begleiten. «Ich will für die Patientinnen da sein, wenn sie ankommen, denn die Demonstranten kommen oft bereits um 7 Uhr», erklärt Derenda Hancock. Sie errichten eine Sichtschranke zwischen dem Parkplatz und dem Eingang zur Klinik.
Verängstigte Patientinnen
Kurz darauf sind die Abtreibungsgegner da: streng religiöse Christen. Sie halten die Autos an, die in den Parkplatz der Klinik einbiegen wollen, und versuchen die Frauen und ihre Begleitung von einer Abtreibung abzuhalten - oder beschimpfen sie. «Schande über dich, Babykillerin! Weh dir, Mörderin», ruft ein grossgewachsener Mann mit dunkler Sonnenbrille und Bart immer wieder.
«Die gehören nicht zur Klinik!» Derenda Hancock winkt die Autos hinein und sagt den Frauen, sie sollen die Demonstranten ignorieren. «Einige werden von Panik überwältigt, wenn sie hier durchfahren. Manche weinen. Normalerweise nicht wegen ihres Entscheids für die Abtreibung, obwohl es für manche ein schwieriger Entscheid ist. Sondern, weil sie Angst bekommen.»
Um die Beschimpfungen zu übertönen, drehen die Begleiterinnen der Klinik Musik auf. Doch die Abtreibungsgegner bringen ein Megafon. So spielt sich diese groteske Szene fast täglich vor der Abtreibungsklinik ab.
Bürgerrechtlerinnen befürchten Verbote
Die Demonstranten beschimpfen auch das Klinikpersonal. Die Abtreibungsärztinnen und -ärzte fliegen jeweils für einige Tage aus anderen Bundesstaaten der USA ein. Von den in Mississippi wohnhaften Gynäkologinnen und Gynäkologen bietet niemand Abtreibungen an.
Für die Frauen ist es ein Spiessrutenlauf. Kim Gibson ist wütend auf die Demonstranten. «Die Frauen kommen zu einer legalen, zertifizierten Klinik und dann treffen sie auf diesen verrückten Zirkus hier draussen. Die Frauen kommen oft von weit her, auch aus benachbarten Bundesstaaten, weil sie dort keinen Zugang zu Abtreibung haben, sie brauchen einen sicheren Ort für die medizinische Behandlung, wo sie nicht belästigt werden.»
Die Klinik ist die einzige im Bundesstaat Mississippi, die Abtreibungen durchführt. Doch es ist offen, ob sie weiter bestehen kann – und viele andere in anderen Bundesstaaten ebenso.
Bürgerrechtlerinnen befürchten, dass die neue konservative Mehrheit am Obersten Gericht der USA die bisherige liberale Rechtsprechung ganz umstösst. Gemäss einem durchgesickerten Entwurf des Urteils will die konservative Mehrheit die Abtreibungsfreiheit aufheben. Fällt das definitive Urteil tatsächlich so aus, können Bundesstaaten die Abtreibung einschränken – oder auch vollständig verbieten.
Vara Lyons ist Politikberaterin bei der Bürgerrechtsorganisation ACLU Mississippi. «Wenn Mississippi diesen Fall gewinnt, dann werden andere Bundesstaaten folgen.» 26 konservative Bundesstaaten würden die Abtreibung verbieten, sofern das Oberste Gericht dies erlaube, schätzt die Organisation Guttmacher.
Arme Frauen sind besonders betroffen
Rund zwei Dutzend konservative Bundesstaaten haben bereits Abtreibungsverbote verabschiedet, die unmittelbar nach einem entsprechenden Urteil des Supreme Courts in Kraft treten würden. «Für einen Staat wie Mississippi mit einer hohen Armutsrate bedeutet das für viele Frauen, dass eine Reise für eine Abtreibung unerschwinglich wird», sagt Lyons.
Für die Fundamentalisten vor der Klinik gibt es keine Kompromisse. Sie akzeptieren weder die Gesetze in Mississippi noch das Oberste Gericht. Gabriel Olivier sagt es so: «Als Christ fordere ich, dass wir Frauen und Ärzte wegen Mordes zur Verantwortung ziehen, weil sie Kinder töten. Gott sagt, Mörder verdienen den Tod.»