Ein US-Bundesrichter hat das neue Abtreibungsgesetz im Bundesstaat Texas vorläufig ausgesetzt. Das ist ein Erfolg für die Biden-Regierung. Sie hält das texanische Gesetz für verfassungswidrig und hat Texas deswegen verklagt. Claudia Brühwiler, USA-Expertin der Uni St.Gallen, erklärt, wie es so weit kommen konnte.
SRF News: Das restriktive Abtreibungsgesetz ist im September in Texas in Kraft getreten. Nun wurde es von einem US-Bundesrichter vorübergehend gestoppt. Wie wichtig ist dieser Schritt für die Regierung von US-Präsident Joe Biden?
Claudia Brühwiler: US-Justizminister Merrick Garland hat es als Triumph für die Frauen in Texas bezeichnet und als Triumph für den Rechtsstaat. Aber er weiss auch, dass es nur ein Etappensieg ist. Denn einerseits wird Texas nun in Berufung gehen und den Fall weiterziehen. Andererseits bedeutet es nicht, dass die verbleibenden Abtreibungskliniken in Texas ihre Arbeit gleich wieder aufnehmen können.
Unter dem neuen Gesetz ist es möglich, auch noch vier Jahre rückwirkend jemanden zu verklagen.
Denn unter diesem Gesetz ist es möglich, auch vier Jahre rückwirkend jemanden zu verklagen, der entweder eine Abtreibung vorgenommen hat oder eine hat vornehmen lassen.
In den USA regelt das Grundsatzurteil von 1973 des Obersten Gerichtshofs das Recht von Frauen auf Abtreibung. Roe v. Wade wird dieses Urteil genannt. Warum konnte das strenge Abtreibungsgesetz in Texas überhaupt in Kraft treten?
Im vorliegenden Fall von Texas hat man zu einer juristischen Finte gegriffen. Die Durchsetzung des Gesetzes ist nicht als staatliche Aufgabe konzipiert, sondern private Bürger haben das Klagerecht. Klagen müssen auf zivilrechtlichen Wege eingeleitet werden. Dadurch wird erschwert, dass man schnell den Weg zum Supreme Court einschlagen kann. Das ist Juristenfutter.
Bisher regelt ein Urteil dieses höchsten Gerichts die Abtreibung in den USA. Warum gibt es eigentlich kein nationales Gesetz?
Ja, das ist die Gretchenfrage. Wie gesagt, es gibt immer wieder auf staatlicher Ebene verschiedene Gesetze, aber eben nicht auf bundesstaatlicher.
Grundsätzlich werden die sogenannten Kulturkampf-Themen, zu denen Abtreibung zählt, nicht auf Bundesebene diskutiert. Sie sind sozusagen zu heikel.
Das ist mit der ganzen Dynamik in der US-Politik zu erklären: Grundsätzlich werden diese sogenannten Kulturkampf-Themen, zu denen Abtreibung zählt, nicht auf Bundesebene diskutiert. Es ist sozusagen zu heikel, ein zu heisses Eisen. Wir haben hier eine Art Fall von politischer Sackgasse.
Die Regierung von Texas kündigte an, dass sie die Entscheidung des Gerichts anfechten werde. Damit wird das Berufungsgericht über das Abtreibungsgesetz entscheiden. Wird die Entscheidung des Gerichts wieder gekippt?
Viele vermuten es, weil der Court of Appeals, der hier angerufen wird, als konservativ gilt. Man geht daher davon aus, dass er das texanische Gesetz schützen könnte. Viele warten deswegen bereits auf den Supreme Court, der im Dezember ein ähnliches Gesetz aus dem Staate Mississippi anschauen wird.
Welche Rolle kommt dem Supreme Court beim Thema Abtreibung zu? Vor allem unter dem ehemaligen US-Präsidenten Trump wurde das höchste Gericht deutlich konservativer.
Es wurde deutlich konservativer. Gleichzeitig hat es aber einige auf Abtreibung bezogene Fragen im Sinne des progressiven Lagers entschieden. Die Frage ist letztlich, ob das Gericht den Fall überhaupt anhören möchte. Das Gericht – das ist ein grosser Unterschied zum Schweizer Bundesgericht – entscheidet selbst darüber, welche Fälle es annimmt. Letztlich läuft es auf die Frage hinaus, ob sich der Supreme Court hier zuständig fühlt.
Das Gespräch führte Raphaël Günther.