Ewa raucht die nächste Zigarette. Daran kann sie sich festhalten, denkt man, hier in einem Café in Warschau, ihrer Heimatstadt. Ewa braucht etwas, um sich festzuhalten, als sie erzählt, was geschah, als sie Anfang Jahr zum zweiten Mal schwanger wurde. Ihren Nachnamen lässt sie weg, ihre Gefühle nicht.
«Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass etwas nicht stimmte, es fühlte sich irgendwie zu leicht an», sagt sie. Die erste Untersuchung bei der Frauenärztin fand am Tag statt, als Russland in Polens Nachbarland Ukraine einmarschierte; im Wartezimmer schauten die Menschen fern und Ewa dachte: «Mist, was soll ich mit zwei Kindern im Krieg? Wir müssen fliehen!»
Ein schwerer Herzfehler
Und dann, als die Frauenärztin den Ultraschallkopf weglegte, kein Lächeln. «Wohl ein Herzfehler», sagte sie. «In sechs Wochen sehen wir mehr und falls etwas Schlimmes sein sollte, können Sie immer noch in den Niederlanden abtreiben.»
Sechs Wochen, das dauerte Ewa zu lange. Sie machte einen teuren Gentest, das Ergebnis war unklar. Sie ging bald wieder zur Ärztin. Und diese sah nun tatsächlich mehr. «Sie wollte mir aber nichts sagen. Ich musste sie anflehen, mir aufzuschreiben, welcher Herzfehler es war.»
In Polen darf man keinen kranken Fötus mehr abtreiben, auch wenn dieser nicht lebensfähig ist. Bestraft werden zwar nicht die Schwangeren, aber Ärzten und allen anderen, die bei Abtreibungen helfen, droht Gefängnis.
Ewa wusste, dass es schlimm stand um ihr ungeborenes Kind, ihren Sohn. Trotzdem wollte sie es. «Ok, dann halt ein krankes Kind», sagte sie sich. «Es wird schon gehen.» Eine Abtreibung kam in Polen ja sowieso nicht infrage.
Dann aber fragte eine Freundin, ob sie das Leben mit einem schwerkranken, vielleicht todgeweihten Kind wirklich auf sich nehmen wolle und Ewa begann im Internet zu suchen. Sie fand Geschichten wie diese: Mein Kind wurde für viel Geld mehrmals im Ausland operiert und wird wohl keine fünf Jahre alt, aber es ist so ein Sonnenschein.
Mein Kind hatte kaum Chancen zu überleben.
Was tröstlich klingen sollte, fand Ewa schrecklich. Sie wusste: Ich muss diese Schwangerschaft abbrechen. «Mein Kind hatte kaum Chancen zu überleben.» Und Ewa wollte nicht, dass ihre zweijährige Tochter den Tod des Geschwisterchens erleben musste.
Wo abtreiben?
Sie war jetzt in der 14. Schwangerschaftswoche und musste schnell entscheiden, wo die Abtreibung stattfinden sollte. Nicht im Ausland: Ihr Mann sagte, er müsse arbeiten, ihre Tochter hatte keinen Pass. Es musste schnell gehen, niemand konnte auf das Kind aufpassen. Also in Polen, illegal, trotz Abtreibungsverbot.
«Zum Glück kenne ich viele Leute», sagt sie. «Mir war klar, dass ich jemanden finden würde, der jemanden kennt.» Eine Freundin gab ihr schliesslich eine Telefonnummer, am nächsten Tag sass Ewa in einer Arztpraxis. Wo das war, will sie nicht preisgeben.
Doch der Arzt weigerte sich, die Abtreibung zu machen, das Risiko zu verbluten sei zu gross, er könnte sie ja nicht ins Spital bringen. Ewa flehte auch ihn an, bis er sagte: Komm morgen wieder, bring 2500 Franken mit. Das ist viel Geld in Polen. Ewa sagt: «Es ist angemessen, er riskierte seine Freiheit, seine Karriere für mich.» Bloss: Sie hatte das Geld nicht; ihr Mann sagte, er könne es auch nicht zusammenkratzen, wollte wohl auch nicht, Freunde halfen aus.
Blutlachen auf dem Boden
Zuerst Tabletten, dann ein Eingriff. Der Arzt gab Ewa die Tabletten, sie ging nach Hause, war allein mit ihrer Zweijährigen, weil ihr Mann es bei ihr nicht aushielt. Und dann blutete sie, vier Tage lang, Lachen auf dem Boden, so stark, dass sie verstand, warum der Arzt ihr verboten hatte, allein zu bleiben. Und die ganze Zeit die Angst, ihre Tochter könnte alles mitbekommen. Nach vier Tagen schaffte sie es wieder – allein – in die Praxis, lag auf dem gynäkologischen Stuhl und fühlte sich vollkommen verlassen.
Was, wenn sie verblutete? Was, wenn ihr der Arzt während der Narkose eine Niere herausschnitt? Aber Ewa wachte auf, nicht mehr schwanger. Sie sagt, sie fühle sich dem Arzt bis heute verbunden, es fühle sich an, als habe er ihr das Leben gerettet. Zum Dank schickte sie ihm hundert weisse Rosen.
Er riskierte seine Freiheit, seine Karriere für mich.
Und dann versank sie im Unglück. Monatelang lag sie fast nur im Bett, nahm Beruhigungsmittel und ass bei McDonald’s. Monatelang verdiente sie, die Freiberuflerin, nichts. Immer noch hielt ihr Mann sie nicht aus. Monatelang wohnten Freunde bei ihr, auch konservative, religiöse – um sie zu stützen, um auf ihr Kind aufzupassen.
Konservative «verstehen Leid besser»
Es klinge vielleicht paradox, sagt sie, «aber ich lebe gerne in einem katholischen Land». Obwohl die Kirche, eng angeschmiegt an Politik und Justiz, für das Abtreibungsverbot ist: Ewa sagt, Konservative, Katholiken verstünden, was Leid bedeute.
Konservative hätten sie zum Teil besser verstanden als ihr liberales Umfeld, in dem eigentlich alle für Abtreibung seien. «Ich habe mich gefragt, warum die Stimmung so komisch ist, warum mich kaum jemand umarmt, warum mir alle mit Floskeln kommen und wollen, dass ich sofort wieder ‹normal› werde.»
Ewas Antwort auf diese Fragen: Weil das Abtreibungsverbot die Gesellschaft vergifte. Wenn etwas verboten sei, kriminell, dann sei es anrüchig, dagegen könne sich kaum jemand wehren. Bis heute fühlt sie sich als Aussätzige, als Hexe. «Ich trage jetzt deshalb immer schwarze Kleider», sagt sie.
Inzwischen geht es ihr etwas besser. Diese Erfahrung, vollkommen allein zu sein, werde sie aber bis an ihr Lebensende nicht vergessen, sagt sie. Von ihrem Mann hat sich Ewa getrennt. Er wollte noch ein Kind.