Das Vereinigte Königreich hat erstmals seit langem eine stabile Regierung, der Brexit-Kurs für die nächsten paar Monate scheint gesetzt, der 31. Januar stellt keine Klippe mehr dar. So nähert sich die britische Mitgliedschaft bei der Europäischen Union ihrem Ende, obwohl die Konditionen noch ausgehandelt werden müssen. Für die andere Union indessen, das United Kingdom, verdüstert sich der Horizont.
Schottisches Mandat
Die Schotten hatten 2014 mit 55 Prozent gegen den Austritt aus dem Königreich gestimmt, gegen die Unabhängigkeit. Ausschlaggebend für die Gegner war dabei das Argument, nur so könne sich Schottland weiterhin der EU-Mitgliedschaft erfreuen. Denn die Schotten teilen die englische Euroskepsis nicht; sie stimmten folgerichtig 2016 mit 62 Prozent gegen den Brexit, sahen sich aber von den Engländern überstimmt.
Die schottische Nationalistenpartei SNP (die im Übrigen sozialdemokratisch ist) verkalkulierte sich anschliessend: Sie preschte mit ihrem Wunsch nach einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum vor und erhielt dafür in der Unterhauswahl von 2017 einen Denkzettel. Diesen hat sie gestern nahezu wieder rückgängig gemacht. Die SNP stellt nun 48 von 59 schottischen Abgeordneten und interpretiert dieses Resultat – zu Recht – als Wählermandat für ein zweites Referendum.
Johnsons Veto
Allein, damit ein derartiger Schritt auch rechtsgültig durchgeführt werden kann, bedarf es der Zustimmung der britischen Regierung. Boris Johnson hat dies bisher kategorisch ausgeschlossen. Dank seiner klaren Mehrheit wird er seine Meinung kaum ändern. Der Graben zwischen dem schottischen Nationalismus und dem englischen, wie er durch Johnson verkörpert wird, vertieft sich dadurch.
Nordirland denkt um
Doch Schottland ist nicht die einzige Sollbruchstelle im Königreich. Seit dem Ja zum Brexit ist auch die verkrustete nordirische Parteienlandschaft in Bewegung geraten. Schon im letzten Mai konnte die überkonfessionelle, gemässigte Allianzpartei bei den Europa- und Kommunalwahlen ungewöhnliche Zugewinne verbuchen. Dieser Trend hat sich gestern fortgesetzt. Symbolisch noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass Nordirland erstmals seit der Teilung der Insel 1921 mehr Abgeordnete gewählt hat, die eine irische Wiedervereinigung befürworten, als Unionisten, die im britischen Staatsverband bleiben wollen.
Der Brexit als Sprengkörper
Der Brexit, der unter Johnsons Plan dafür sorgt, dass Nordirland im Regelwerk der EU bleibt, aber eine Zollgrenze zu Grossbritannien hinnehmen muss, hat unter gemässigten Unionisten Zweifel an der Dauerhaftigkeit dieser Union geweckt. Nordirische Meinungsumfragen sind zwar selten, aber in den letzten zwei Jahren gab es erstmals hauchdünne Mehrheiten für die Wiedervereinigung. Der demografische Wandel verstärkt diesen Trend.
Selbst in Wales wächst seit dem Brexit der Wunsch nach Unabhängigkeit, obwohl er noch längst nicht mehrheitsfähig ist. So zeigt sich, dass der ungestüme Wunsch englischer Nationalisten nach einer Emanzipation von der EU den Zusammenhalt des eigenen Königreichs gefährdet.