Jeden Freitag zeigt sich das gleiche Bild. Tausende Palästinenser ziehen an die Grenze zu Israel, um gegen die Blockade des Gazastreifens zu protestieren. Doch das ist nicht die ganze Realität, wie der Journalist Martin Durm auf seiner Reise in das Palästinensergebiet in Erfahrung brachte.
SRF: Was hat Sie während ihrer Reise im Gazastreifen am meisten überrascht?
Martin Durm: Die überraschendste Erkenntnis war, dass das, was wir üblicherweise im Fernsehen zu sehen bekommen, nur ein kleiner Ausschnitt der Realität in Gaza ist. Man hat den Eindruck, jeden Freitag gebe es dort einen Volksaufstand und die palästinensische Jugend opfere sich im Anrennen gegen die israelischen Grenzzäune. Das ist tatsächlich so, aber es beschränkt sich auf ein paar hundert oder auch mal ein paar tausend Menschen. Der grosse Rest in Gaza bleibt lieber zu Hause. Wenn man diese daheim besucht, dann fluchen sie über die Hamas, sie preisen sie nicht. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Hamas einen grossen Teil ihrer Unterstützung, die sie einmal genossen hat, längst verspielt hat.
Die Hamas kümmert sich nur um den bewaffneten Kampf, aber nicht um die Alltagssorgen der Menschen in Gaza.
Warum hat die Hamas diesen Bonus verspielt?
Als die Hamas 2006 durch demokratische Wahlen an die Macht kam, hatte sie den Bonus, dass sie nicht korrupt war. Inzwischen sagen die Leute, sie ist so korrupt wie ihre Konkurrenzorganisation, die säkulare Fatah. Die Hamas-Führer fahren heute in aufgemotzten Toyota-Trucks durch die Elendsviertel in Gaza. Die Islamisten verstehen sich im Grunde nur auf militärische Konfrontation: Sie preisen die Schönheit des Märtyrertods, sie rufen jeden Freitag in den Moscheen dazu auf, zu den Grenzzäunen zu gehen und sich dort zu opfern. Aber sie kümmern sich nur um den bewaffneten Kampf, nicht um die Alltagssorgen in Gaza. Gesundheit, Bildung, Nahrung – das überlassen sie lieber den Vereinten Nationen.
Im Gazastreifen gibt es mittlerweile durchaus Konkurrenz zur Hamas, nämlich seitens der radikalsten Islamisten.
Warum kann sich die Hamas noch halten?
Schlicht und einfach, weil sie Gewehre hat. Weil sie es ist, die mit den Massen an Waffen, die sie mittlerweile hortet, die Bevölkerung in Schach halten kann. Worüber aber wenig geredet wird: Im Gazastreifen gibt es mittlerweile durchaus Konkurrenz zur Hamas, nämlich durch radikalste Islamisten. Es gibt Zweige des Islamischen Staats IS, die vom Sinai her einsickern. Selbst für die israelische Regierung ist es inzwischen leichter, mit der verhassten Hamas zu leben, als die Hamas loszuwerden und befürchten zu müssen, dass in Gaza womöglich der radikalste Islam in ein Vakuum eindringen könnte, den man sich vorstellen kann – nämlich der IS.
Wer das Geld hat, der kann es sich im Gazastreifen gut gehen lassen. Das Problem ist nur, dass die Masse der Menschen im Gazastreifen verarmt und verelendet ist.
Wie zeigt sich die seit über 10 Jahren andauernde Blockade in Gaza konkret?
Auch das ist erstaunlich, wenn man durch Gaza reist. Die Märkte sind voll. In Gaza bekommen sie so ziemlich alles zu kaufen, vom schicksten Handy bis zu den neusten Unterhosen von Boss. Wer das Geld hat, der kann es sich im Gazastreifen gut gehen lassen. Das Problem ist nur, dass die Masse der Menschen im Gazastreifen verarmt und verelendet ist. Es ist vielleicht kein Elendsgebiet, wie es beispielsweise in Ägypten zu beobachten ist, dafür wird der Gazastreifen von den Vereinten Nationen zu gut versorgt. Es ist vielmehr ein psychologisches Elend. Die Menschen können seit 2007 Gaza nicht verlassen, darunter leiden sie. Sie hungern nicht, aber sie leiden enorm an diesem Gefühl, isoliert und abgeschnitten zu sein vom Rest der Welt.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.