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Anschläge von 2016 So startet der Mammutprozess um die Terroranschläge in Brüssel

Bei den Angriffen am 22. März 2016 hatten drei Selbstmordattentäter der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) Bomben am Brüsseler Flughafen Zaventem und in einer U-Bahnstation im EU-Viertel gezündet. Zehn Menschen sind angeklagt, einer davon gilt als vermisst.

In welchem Rahmen findet der Prozess statt? Der Prozess sprenge alle Dimensionen, sagt SRF-EU-Korrespondent Charles Liebherr. Es sei extra ein Gerichtssaal im alten Nato-Gebäude gebaut worden, weil in Brüssel kein anderer Gerichtssaal die Anforderungen erfüllen konnte. Zudem wurde eine grosse Glaskabine bereitgestellt, in der die Angeklagten gemeinsam sitzen können.

Wie funktioniert der Prozess vor einem Geschworenengericht? Auf den ersten Blick wie bei einem normalen Strafprozess in Belgien. Die Verfassung schreibt zwölf Geschworene vor. Das sind ausgewählte Bürger, Stimmberechtigte in Belgien. «Doch dieses Mal wurden für jeden und jede dieser zwölf Geschworenen auch zwei Ersatzgeschworene gewählt, damit das Geschworenengericht in jedem Fall immer vollständig ist. Das heisst: 36 Menschen müssen den ganzen Prozess über mehrere Monate anwesend sein, damit sie am Schluss auch urteilen können», erklärt Liebherr. Wegen des Strafprozesses in dieser aussergewöhnlichen Dimension brauche es zudem eine besondere Betreuung für die Jurymitglieder, damit der Prozess für sie bewältigbar sei.

Polizeibeamte stehen im Gerichtssaal vor der Auswahl der Geschworenen für den Prozess.
Legende: Polizeibeamte stehen im Gerichtssaal vor der Auswahl der Geschworenen für den Prozess um die Anschläge von Brüssel und Maelbeek 2016 im Justitia-Gebäude in Brüssel (30. November 2022). Stephanie Lecocq/Pool via REUTERS

Warum setzt das Gericht in diesem speziellen Fall auf eine Laienjury? Das hat in Belgien für Diskussionen gesorgt. «Verschiedene Politiker, aber auch Professoren, haben gesagt, dass man eine Volksjury, eine Jury populaire, damit überfordern würde», so Liebherr. Gleichzeitig habe man auch die Argumente abgewogen und gesagt, es gehe letztlich auch um einen «ganz gewöhnlichen Strafprozess». Da solle man nicht alles auf den Kopf stellen.

So kam es zur Prozessverzögerung

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Der Prozess musste Mitte September bereits am ersten Tag vertagt werden. Dies, weil das Gericht zum Schluss kam, dass die Boxen, in denen die Angeklagten vor Gericht sitzen sollten, die Normen nicht erfüllen würden. Vorgesehen war eigentlich, dass jeder Angeklagte in einer Einzelbox abgeschottet vom Gerichtssaal sitzen sollte.

Dagegen wehrte sich die Verteidigung, und das Gericht befand schliesslich, dass die Einzelkabinen gegen die Menschenrechtskonvention verstossen würden. Es solle stattdessen eine grosse Glaskabine bereitgestellt werden, in der die Angeklagten gemeinsam sitzen können. Wegen des Umbaus verzögerten sich die Verhandlungen. «Das zeigt auch, welche ausserordentliche Dimension dieser Prozess hat und dass er letztlich ein wenig alle überfordert», sagt der EU-Korrespondent.

Die Volksvertretung hat laut Liebherr auch eine besondere Dimension: Den Gedanken, dass Bürger im Gericht direkt eingebunden sein sollen, wenn es darum gehe, Recht zu sprechen, weil es die ganze Bevölkerung Belgiens betreffe. «In diesem Fall sind diese Jurymitglieder auch ein wenig stellvertretend für die ganze Bevölkerung gedacht und sollen so vielleicht auch einen kleinen Beitrag zur kollektiven gesellschaftlichen Aufarbeitung dieser dramatischen Terroranschläge leisten.»

Wie wichtig ist dieser Gerichtsprozess für Belgien und seine Bevölkerung? Charles Liebherr schätzt den Prozess als sehr wichtig ein. Bereits die Prozesse in Paris zu den Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und das Konzertlokal Bataclan wurden in den Medien sehr eng verfolgt, aber auch von der Öffentlichkeit mit grossem Interesse zur Kenntnis genommen.

960 offiziell anerkannte Opfer

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960 Opfer der Terroranschläge am 22. März 2016 hat der belgische Staat offiziell anerkannt; Angehörige der Getöteten, Verletzte und Menschen, die Erste Hilfe geleistet haben. Sie alle haben Anspruch auf finanzielle Entschädigung.

Der Verein «Life for Brussels» hilft den betroffenen Personen, alle Dokumente zu erhalten, um entschädigt zu werden. Auch bei der Verschriftlichung der Zeugenaussage, beim Kommunikationstraining für die Aussage im Gerichtssaal und für psychologische Einzelbetreuung hilft der Verein. Zwölf Anwälte vertreten die Interessen von knapp 300 Opfern an diesem Mega-Prozess, der sechs bis neun Monate dauern wird.

Doch für zahlreiche Opfer habe der Prozessbeginn einen bitteren Beigeschmack, weil sich viele Menschen immer noch alleingelassen fühlten, sagt Charles Liebherr. «Das Gesetz verpflichtet den Staat zur Entschädigung von Terroropfer. Die Realität sieht anders aus.»

Es gibt teilweise auch personelle Verbindungen, weil die Anschläge in der französischen und in der belgischen Hauptstadt wahrscheinlich auf dieselbe Terrorzelle zurückgehen. «Wegen des inhaltlichen Zusammenhangs hat dieser Prozess auch so eine grosse öffentliche Beachtung, weil es letztlich um belgische Bürger geht, die diese Anschläge verübt haben», so Liebherr. All das schaffe eine emotionale Nähe in der Bevölkerung.

SRF 4 News, 05.12.2022, 08:18 Uhr ; 

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