Nach den Anschlägen von Brüssel ist die die Angst vor weiteren Gewaltakten durch Anhänger der Terorrmiliz IS in ganz Europa weiter gestiegen. Es sei ein «Akt der psychologischen Kriegsführung», sagt der deutsche Dschihadismus-Experte und «Zeit»-Journalist Yassin Musharbash.
Wie bewerten sie die Anschläge in Brüssel gerade zum jetzigen Zeitpunkt, kurz nach der Festnahme eines Pariser Attentäters im Viertel Molenbeek?
Der Liveticker
Yassin Musharbash: Die Anschläge lassen sich wohl nicht als Rachefeldzug auf diese Festnahme erklären. Solche Anschläge zeitgleich an verschiedenen Orten können nicht übers Wochenende organisiert werden. Einzig halte ich aber für denkbar, dass dieser Plan später und vielleicht noch umfassender umgesetzt werden sollte. Die Täter haben also möglicherweise die Aktion vorgezogen, um zu verhindern, dass man ihnen zuvorkommt.
Offenbar sind genügend Waffen und Sprengstoff vorhanden. Ist es da nicht ein Leichtes, zwei bis drei Attentäter loszuschicken?
Ganz so leicht ist das nicht. Eine gewisse Logistik ist nötig. Auch kann nicht jeder Sprengstoff einfach in einen Rucksack gesteckt und herumgetragen werden. Dazu kommt der Zugang zum Flughafen, wo es sein könnte, dass die Attentäter sogar durch mindestens eine Sicherheitsschleuse gelangt sind. Das kann man nicht improvisieren.
Es gibt in Brüssel nach monatelangen Untersuchungen und Ermittlungen nach wie vor aktive terroristische Zellen. Wie kann das geschehen?
Das ist eine der zentralen Fragen, die in den nächsten Wochen und Monaten zu beantworten ist. Die belgischen Behörden sind offensichtlich an gewissen Stellen überfordert gewesen. Wenn man mit Experten spricht, sagen die zwar immer wieder, man könne jetzt nicht einfach alles auf die belgische Polizei schieben und sie quasi als einen Haufen Deppen darstellen. Das wäre ungerecht und das will ich auch glauben.
Aber trotzdem muss konstatiert werden, dass dort Fehler passiert sein müssen. Zugleich muss man den Behörden in Belgien zugutehalten: Es gibt eine goldene, ehemals von der IRA geprägte Terrorismus-Regel, die da lautet: Wir müssen nur einmal Glück haben, um Erfolg zu haben, ihr dagegen immer.
Der Eindruck wächst aber, dass man zwar ziemlich genau weiss, wo sich Terrorzellen in Europa verstecken, aber man unternimmt nichts. Stimmt das?
Nein, das stimmt sicher nicht. Die Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste schieben einen irrsinnigen Berg an Überstunden vor sich her, vor allem nach Paris. Die internationale Zusammenarbeit wurde nochmals massiv ausgeweitet. Das Problem ist aber die schiere Zahl der potenziellen Täter. Sie hat in den letzten Jahren wegen Syrien und IS Dimensionen angenommen, die es wirklich schwer machen, der Bedrohung noch Herr zu werden.
Kommt jetzt in Europa ein Umdenken in Richtung mehr Sicherheit, weniger Freiheit?
Ich befürchte, es passiert, was bisher nach jedem Anschlag in Europa geschah: Eine weitere Beschränkung gewisser gewohnter Bequemlichkeiten, etwa die Erhöhung der Sicherheit an europäischen Flughäfen.
Auch die Politik ist immer auf der Suche nach umsetzbaren Ideen, um Tätigkeit zu demonstrieren. Man darf aber darüber die Diskussion über die wahren Ursachen des Terrorismus nicht ausser Acht lassen. Denn diese lassen sich nicht per Gesetzesänderung aus der Welt schaffen.
Was ist die Hauptursache?
Ein Blick auf die Männer, die in den letzten Jahren in Europa zu einer terroristischen Bedrohung herangewachsen sind, zeigt: Es sind Bürger unserer eigenen Gesellschaft, die hier aufgewachsen sind. Es geht hier nicht um Flüchtlinge, die in den letzten Monaten aus Syrien oder Irak hergekommen sind.
Die Frage heisst also: Wie kann es sein, dass für mitten unter uns aufgewachsene Menschen eine derart verrückte Ideologie attraktiver ist als das Angebot unserer offenen, liberalen und demokratischen europäischen Gesellschaft. Das ist ein Punkt, an dem die Terrorbekämpfung gestärkt werden muss.
Das Interview führte Isabelle Jacobi.
Bilder von den Anschlägen in Brüssel
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Bild 1 von 13. Der Brüsseler Börsenplatz in der Innenstadt entwickelte sich zu einer zentralen Gedenkstätte zu den Anschlägen in der belgischen Hauptstadt. Bildquelle: Reuters.
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Bild 2 von 13. Die Trauer in Belgien ist gross. Der belgische Premier Charles Michel hat unterdessen die Belgier aufgerufen, nach den blutigen Terroranschlägen in Brüssel geeint zu bleiben. «Die Freiheit ist in ihrem Herz getroffen worden», sagte er. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 13. Forensiker verlassen den Anschlagsort, die U-Bahn-Station Maelbeek. Dort sollen 20 Menschen gestorben sein. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 13. Um 7:57 Uhr explodiert eine erste Bombe in der Abflughalle des Flughafens Brüssel. Kurz darauf detoniert ein zweiter Sprengsatz. Die Menschen versuchen in Panik irgendwo Schutz zu finden. Bildquelle: Twitter.
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Bild 5 von 13. Ein Augenzeuge berichtet, er habe vor der ersten Explosion einen Mann etwas auf Arabisch rufen hören. «Dann brach die Platten-Decke des Flughafens ein.». Bildquelle: Facebook.
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Bild 6 von 13. Am Flughafen herrschte nach den Explosionen das pure Chaos. Flughafenmitarbeiter Alphonse Youla: «Ich habe geholfen, fünf Tote rauszutragen.» Neben den vielen Todesopfern lagen oder sassen Dutzende Verletzte am Boden der Ankunftshalle. Bildquelle: Keystone.
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Bild 7 von 13. Nachdem die Bomben den Flughafen verwüstet haben, geht der Schrecken an anderen Orten weiter: Um 09:11 Uhr explodiert eine Bombe in einer U-Bahn mitten im Brüsseler EU-Viertel. Medienberichte, wonach später eine weitere Bombe in der Nähe der U-Bahnstation Maelbeek hochging, bestätigen sich nicht: Es handelte sich um eine Entschärfung. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 13. Rettungswagen und Spezialkräfte eilen zur betroffenen U-Bahnstation. Mindestens 20 Menschen können nur noch tot geborgen werden. Mehr als fünfzig weitere werden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 13. Inzwischen wird die Zerstörung beim Flughafen sichtbar: Ganze Fensterfronten barsten unter dem Druck der Explosion. Bildquelle: Keystone.
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Bild 10 von 13. Die Metro steht still, der Flugbetrieb wird eingestellt. Die Reisenden machen sich zu Fuss auf – an einen sicheren Ort. Bildquelle: Keystone.
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Bild 11 von 13. Die Belgier sind geschockt. Mindestens 34 Tote und über 130 Verletzte ist die vorläufige Bilanz der Anschlag-Serie. Bildquelle: Keystone.
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Bild 12 von 13. Decken für die Betroffenen: Jenen, die unverletzt blieben, steht die Trauer und der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Bildquelle: Keystone.
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Bild 13 von 13. Ungewöhnlich viele Emotionen zeigt die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini. Sie ist gerade in Jordanien zu Besuch, als sie von den Anschlägen erfährt. «Es ist ein trauriger Tag für Europa», sagt sie später. Bildquelle: Keystone.