Der Mann am Boden trägt noch seine Brille. Er wurde gerade von Polizisten überwältigt, Waffen sind auf ihn gerichtet. Vor wenigen Minuten raste der 50-Jährige in den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Menschen verloren dabei ihr Leben, 200 wurden verletzt, zum Teil schwer. In Magdeburg geschah ein schweres Verbrechen.
Am Boden also liegt der Mann, ein Psychiater aus Saudi-Arabien, der seit 2006 in Deutschland lebt und arbeitet. Das Täterbild ist schwierig zu lesen: Der Mann präsentierte sich online als radikaler Islam-Kritiker, fühlte sich offenbar verfolgt. Den Deutschen Behörden warf er auf dem sozialen Netzwerk X vor, zu wenig gegen die «Islamisierung» zu tun – im Gegenteil sogar, diese zur fördern. Er kündigte «Rache» an auf X - weil Deutschland sich nicht um saudische Flüchtlinge kümmere. Der Mann sympathisiert mit der AfD, der «Alternative für Deutschland», mit Elon Musk. Sein X-Profilbild ist das Foto eines amerikanischen Langgewehrs. Auf dem Schirm der Geheimdienste war der Arzt offenbar dennoch nicht.
Angriff auf die Freiheit – und auf das Gefühl der Sicherheit
Am Freitag mietete sich der Mann einen BMW-Geländewagen. Er fand eine Lücke im Sicherheits-System, raste zwischen zwei Beton-Blöcken in Richtung Stadtzentrum, mitten in den Markt, wo Menschen Glühwein tranken, sich freuten, auf Weihnachten anstiessen. Auf 400 Metern standen die Menschen an den Ständen. Der Mann gab Gas. Alles erinnerte an den Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016. Ein Terrorist raste mit einem Lastwagen in die Menge, 12 Menschen starben, 67 wurden zum Teil schwer verletzt. Seit diesem Attentat werden Veranstaltungen in Deutschland besonders geschützt, Weihnachtsmärkte gleichen Trutzburgen. Eine solche war, vermeintlich, auch der Markt in Magdeburg.
Warum gab es die Lücke zwischen den Betonblöcken?
Nach der Tat bleiben Fragen, viele Fragen. Warum gab es die Lücke zwischen den Betonblöcken, so gross, dass der Mann mit dem BMW-Geländewagen durchkam? Die Behörden werden sich unangenehme Fragen stellen müssen. Die Untersuchungen laufen erst an.
Eine der grossen Fragen auch jene: Wie wird die Politik reagieren? In zwei Monaten wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Migration ist eines der wichtigsten Themen. Wer wird sich das Verbrechen zunutze machen? Wie reagieren die Menschen, wenn die erste Trauerphase vorbei ist? Die Frage: Kann der Staat seine Bürgerinnen und Bürger überhaupt noch beschützen?
Der Kanzler am Tatort
Kanzler Scholz ist am Samstag nach Magdeburg gereist, Pressekonferenz am Mittag. Scholz sagt: «Es gibt keinen fröhlicheren Ort als der Weihnachtsmarkt. Was für eine furchtbare Tat ist das, so viele Menschen zu töten und zu verletzen. Wir müssen diese furchtbare, wahnsinnige Tat genau aufklären». Man müsse als Land jetzt zusammenhalten, den Hass nicht siegen lassen. Was man halt so sagt.
Der mutmassliche Täter wird derzeit verhört. Ein erster Drogentest sei positiv ausgefallen, heisst es. Cannabis, Kokain. Es wird dauern, bis man – wenn überhaupt – eine der weiteren grossen Fragen beantworten kann. Warum? Warum hatte sich der Mann zu dieser Tat, zu diesem Verbrechen entschieden? War es Wut, Hass? Beides zusammen? Warum hat der Psychiater den Verstand verloren, warum hat er als Arzt so viele Menschen verletzt, getötet?
Es sind Fragen, die nach der Trauer kommen, nach der Verzweiflung. Aber die Antworten können helfen beim Überwinden des Schmerzes. Und beim Wiederfinden eines Gefühls der Sicherheit, wie es freie Menschen gewohnt sind zu haben.