Joe Biden, Präsidentschaftskandidat der Demokraten, ist mitten im Wahlkampf mit Vorwürfen konfrontiert, er habe eine Frau sexuell belästigt. Diese seien nicht wahr, das sei nie passiert, betonte er nun live im Fernsehen. Für SRF-USA-Korrespondent Matthias Kündig gibt es dennoch viele offene Fragen.
SRF News: Ist Joe Biden der Befreiungsschlag mit dem Auftritt im Fernsehen gelungen?
Matthias Kündig: Ich denke, es ist noch zu früh, eine abschliessende Antwort darauf zu geben. Die Frau, die die Anschuldigungen erhebt, wird erst am Sonntag erstmals öffentlich auftreten. Joe Biden wirkte ruhig, fast ratlos. Er betonte immer wieder, dass sich der Vorfall nicht ereignet habe. Er könne sich auch nicht erinnern, dass ein solcher Vorfall jemals ein Thema gewesen sei. Das wirkte auf mich einigermassen glaubwürdig. Aber: Er hat damit die Latte natürlich hoch gelegt. Wenn nun doch noch Dokumente oder Zeugen auftreten, welche die Anschuldigungen untermauern, hätte Biden ein grosses Problem.
Wie glaubwürdig ist denn die Geschichte dieser Frau?
Tara Reade hat Personen genannt, denen sie den Vorfall geschildert haben will – wenn auch Jahre später. Diese haben das bestätigt. Sie sagt auch, sie habe bei der zuständigen Stelle im Senat eine Beschwerde deponiert. Sollte dem so sein, müsse sie im Nationalarchiv zu finden sein, betont Biden. Nur weiss man noch nicht, ob das wirklich der Fall ist. Die «New York Times» hat zudem mit ehemaligen Mitarbeitenden der Frau gesprochen. Von den Angefragten konnte sich niemand daran erinnern, dass sie damals von einem Vorfall gehört hätten. Es gibt also Punkte, die für die Geschichte sprechen, andere dagegen.
Der Druck auf Joe Biden muss immens sein, wenn er öffentlich im Fernsehen Stellung nimmt. Wie sehr schadet ihm diese Affäre?
Im Moment schadet sie ihm noch nicht. Das könnte sich aber ändern, wenn Beweise oder Zeugen auftauchen. Schon jetzt kann man aber erkennen, dass die Geschichte für die Demokraten äusserst unangenehm ist. Denn sie haben zum Beispiel im Herbst 2018 im Fall des Richters Brett Kavanaugh unermüdlich betont, dass man Frauen ernst nehmen müsse, die Anschuldigungen zu sexuellen Übergriffen machen. Selbst, wenn es keine Zeugen und Widersprüche gebe. Nun ist es für die Demokraten heikel, die Aussagen der Frau in Zweifel zu ziehen.
Lassen die Demokraten ihn dann einfach fallen?
Hinzu kommt, dass Biden als Kandidat der Demokraten ja so gut wie feststeht. Allzu sehr können sie sich von ihm nicht mehr distanzieren. Niemand weiss, was passiert, wenn Biden vor 27 Jahren tatsächlich übergriffig geworden ist. Lassen die Demokraten ihn dann einfach fallen? Wer wird dann ihr Kandidat?
Eine schwierige Position also für die Demokraten. Wie reagieren denn die Republikaner? Für die muss das ja ein gefundenes Fressen sein.
Interessanterweise waren die Republikaner bisher eher zurückhaltend bei diesem Thema. Sie sagen zwar schon, die Demokraten würden nun anders beurteilen als noch bei Brett Kavanaugh und werfen ihnen Doppelmoral vor. Aber sie zeigen mit dem Finger eben vor allem auf die Demokraten und nicht auf Joe Biden. Denn gegen ihren Kandidaten Donald Trump gibt es ja zum Teil weit gravierendere Anschuldigungen von mindestens 21 Frauen.
Und auch Präsident Trump hat sich bisher sehr zurückhaltend geäussert. Er meinte, Biden müsse nun Antworten liefern, aber bei dem Thema gebe es ja viele falsche Anschuldigungen. Er selber werde ja immer wieder Opfer davon. Letztlich weiss Trump: Er ist beim Thema sexuelle Übergriffe ganz einfach nicht die richtige Person, um den ersten Stein zu werfen.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.