Der Mord an der 85-jährigen Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll in Paris hat in Frankreich, aber auch international, viel Aufsehen erregt. Die Behörden ermitteln unter anderem wegen Antisemitismus. Viele Jüdinnen und Juden fragen sich inzwischen, wie sicher sie in Frankreich noch sind.
Der Journalist Dominique Vidal, selber Jude, hält jedoch fest: «Antisemitismus ist in Frankreich heute eine Randerscheinung.»
SRF News: Die Bestürzung nach dem Mord an der Shoa-Überlebenden Mireille Knoll ist gross – nicht nur unter den Juden in Frankreich. Erleben Sie das auch so?
Dominique Vidal: Selbstverständlich. Denn dass man Juden tötet, weil sie Juden sind – das ist ja nun doch eine neue Erscheinung im Nachkriegs-Frankreich. Angefangen hatte es vor einigen Jahren mit dem Attentat auf die jüdische Schule in Toulouse, bei dem ein Terrorist vier Menschen ermordete. Dann wurden vier Menschen bei dem Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015 getötet. Vor ein paar Monaten wurde eine ältere Frau, eine Holocaust-Überlebende, in Paris getötet. Und jetzt also Mireille Knoll, ebenfalls eine Überlebende der Shoa. Da ist es verständlich, dass viele französische Juden beunruhigt sind.
Nach dem Mord an der älteren Frau vor ein paar Monaten zögerten die Behörden lange, die Tat in einen antisemitischen Zusammenhang zu stellen – obschon sich dies später bestätigte. Warum sind die französischen Behörden so übervorsichtig, bevor sie Antisemitismus als mögliches Tatmotiv überhaupt in Betracht ziehen?
Ich glaube nicht, dass die Behörden übervorsichtig sind. Die Justiz muss ihre Arbeit machen, in Frankreich genauso wie in der Schweiz. Die Behörden müssen sich Zeit nehmen, um die Fakten zu überprüfen. Sie dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Schliesslicht gibt es bei solchen Anschlägen – wie bei islamistischen Attacken auch – immer wieder Täter, die mental gestört sind. Es ist nicht immer einfach herauszufinden, ob das Motiv tatsächlich Antisemitismus war, oder Islamfeindlichkeit oder eine andere Form von Rassismus. Beim Fall, den Sie erwähnt haben, kamen die Behörden zum Schluss, dass es sich um eine judenfeindliche Tat handelte. Und der Mörder wurde entsprechend angeklagt. Das wird wohl bei diesem jüngsten Fall auch so geschehen.
Für die Menschen, die wegen ihrem Judentum am eigenen Leib bedroht waren sind diese Morde absolut traumatisch.
Fühlt man sich als jüdischer Mitbürger im Frankreich von heute weniger sicher und beschützt als noch vor einigen Jahren?
Nein. Ich bin jüdischer Herkunft, mein Vater hat zwei Jahre Auschwitz überlebt, meine Mutter wurde während dem Zweiten Weltkrieg als Kind in einem südfranzösischen protestantischen Dorf versteckt. Ich bin wohl eine Art Prototyp des französischen Juden, auch wenn ich nicht gläubig bin. Ich fühle mich heute nicht weniger sicher als in der Vergangenheit. Trotzdem glaube ich, dass es hier ein Problem gibt: Es gibt einen Widerspruch zwischen dem, was die Statistiken sagen, und dem Gefühl vieler Juden. Die Statistiken sind sehr klar: Seit 1945 wurde der Antisemitismus als Ideologie an den Rand gedrängt. Ein Beispiel: Bei der allerersten solchen Umfrage, die 1946 gemacht wurde, war nur ein Drittel der Befragten der Meinung, die Juden seien Franzosen wie alle anderen. Heute glauben das fast 90 Prozent.
Die Statistiken sind sehr klar: Seit 1945 wurde der Antisemitismus als Ideologie an den Rand gedrängt.
Der Antisemitismus ist also eine Randerscheinung. Die Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund allerdings nahmen nach der Jahrtausendwende stark zu, seit 2002 nehmen sie aber stetig wieder ab. Das Problem ist: Sobald Juden wegen ihrer Religion getötet werden, ist das für viele Juden ein regelrechtes Trauma, das stärker ist als nackte Zahlen.
Wie äussert sich die traumatische Wirkung solcher Morde im Alltag?
Ich erlebe das in meinem Umfeld: Mein Vater ist 95-jährig. Wenn er hört, dass eine Holocaust-Überlebende umgebracht wurde, ist das sehr traumatisch für ihn. Mein Sohn ist etwas über 40 Jahre alt, meine Tochter 20 Jahre. Beide empfinden das ganz anders. Sie wissen, dass antisemitische Straftaten in Frankreich selten vorkommen, wenn man sich das Ganze mit Distanz anschaut. 2017 waren es 77 gewalttätige antisemitische Vorkommnisse, gegenüber hunderttausenden Gewalttaten insgesamt in Frankreich. Es gibt also einen gefühlten Widerspruch und den müssen wir hinnehmen. Vor allem für die Menschen, die wegen ihrem Judentum am eigenen Leib bedroht waren sind diese Morde absolut traumatisch.
Viele Jüdinnen und Juden wandern von Frankreich nach Israel aus, weil sie sich dort angeblich sicherer fühlen. Ist das in Ihrem Umfeld auch ein Thema?
Wir Journalisten hinken oftmals ein wenig hinter den Fakten her: Es gab 2015 eine deutliche Zunahme bei der Emigration nach Israel. Das ist verständlich, da hatten wir die schrecklichen dschihadistischen Anschläge von Charlie Hebdo und dem Bataclan. Da sind um die 7000 Jüdinnen und Juden nach Israel ausgewandert. Seitdem hat sich das aber wieder stabilisiert und bewegt sich im gleichen Rahmen wie vor diesen Terroranschlägen. Und ein Teil der ausgewanderten Leute kommt auch wieder zurück, weil sie es nicht schaffen, in Israel Fuss zu fassen und dort heimisch zu werden.
Es braucht eine Menge Aufklärungsarbeit gegen Rassismus und Antisemitismus, vor allem in den Schulen.
Vor rund einer Woche hat die französische Regierung ihren Aktionsplan gegen Antisemitismus und Rassismus vorgestellt. Dieser sieht unter anderem vor, gegen Hass im Netz stärker vorzugehen. Was halten Sie davon?
Der Plan hat viele guten Elemente. Ein Problem dabei ist aber, dass es nicht reicht, wenn man nur auf Repression setzt. Es braucht Repression, und es braucht Schutzmassnahmen. Aber es braucht auch eine Menge Aufklärungsarbeit gegen Rassismus und Antisemitismus, vor allem in den Schulen. Die Kinder und Jugendlichen müssen den Wert der Menschenrechte kennen und den Respekt lernen vor allen Religionen und allen Minderheiten. Auch vor den vielen Migranten, die heute am meisten von Attacken bedroht sind.
Ist der Plan dafür geeignet?
Hoffen wir es! Wir leben in komplizierten Zeiten, mit Terrorattacken, aber auch mit dem Aufwind für populistische Parteien, die ihre Propaganda oft rassistisch und antisemitisch unterlegen. Es gibt viel zu tun bei der Bildung, nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.