SRF News: Am gestrigen Streiktag gingen je nach Angaben 220'000 bis 400'000 Franzosen gegen die Arbeitsmarktreform von Emmanuel Macron auf die Strasse. Ist das ein Erfolg für die Gewerkschaften – oder für den Präsidenten?
Henrik Uterwedde: Es ist kein wirklicher Erfolg für die Gewerkschaften. Sie waren sich ja auch nicht einig: Nur die CGT hatte zu den Demonstrationen aufgerufen. Die anderen Gewerkschaften sind dem Aufruf nicht gefolgt. Das ist ein Erfolg für Präsident Macron und seine Regierung, die im Vorfeld dieser äusserst kontroversen Reform intensive Gespräche mit den Arbeitnehmer-Vertretern geführt hatten.
Alle Gewerkschaften wurden in die Gespräche mit einbezogen und die Regierung machte dabei auch die eine oder andere Konzession. Dadurch wurden die Gewerkschaften und die sozialen Protestfronten gespalten. So kam es zu der eher mageren Mobilisierung am Dienstag.
Macrons entschlossene und gleichzeitig dialogbereite Vorgehen führte dazu, dass die Arbeitsmarktreform durchgesetzt werden wird.
War die Uneinigkeit der Gewerkschaften der einzige Grund, dass nicht mehr Menschen auf die Strasse gegangen sind?
Eine Rolle dürfte auch gespielt haben, dass Macron immer mit offenen Karten gespielt hat: Er betonte stets die Wichtigkeit der Reform, die die früheren Regierungen jeweils als Tabu behandelt hatten. Macron sagte immer, was er tun werde und nie einen Zweifel daran gelassen, dass er es auch tatsächlich tun würde. Er wählte dafür den Verordnungsweg, der ein sehr schnelles Handeln möglich macht.
Gleichzeitig verhandelte er wochenlang mit allen Beteiligten. Dieses entschlossene und gleichzeitig dialogbereite Vorgehen führte dazu, dass diese Arbeitsmarktreform durchgesetzt werden wird. Denn die Franzosen spüren, dass etwas passieren muss und die Blockierungen gelöst werden müssen – auch wenn ihnen das nicht unbedingt gefällt.
In der Vergangenheit schafften es die Gewerkschaften, bei Protesten gegen Arbeitsmarktreformen das ganze Land lahmzulegen. Wird ihnen das diesmal nicht mehr gelingen?
Kaum. Allerdings ist in Frankreich immer schwierig einzuschätzen, wie es weitergeht: Für den 21. September ruft die CGT zu einem weiteren Protesttag auf: Für den 23. September organisiert der Links-Politiker Jean-Luc Mélenchon einen politischen Protest. Macron muss nun aufpassen, dass nicht plötzlich andere umstrittene Themen aufscheinen und weitere Unzufriedene ein Amalgam mit dem Protest gegen die Arbeitsmarktreform bilden.
So geht es etwa auch um Beamte, die keine Lohnerhöhung bekommen, um den Wegfall von subventionierten Arbeitsplätzen oder um die Kürzung von Wohnungsgeld in der Höhe von 5 Euro. In Frankreich kann es immer passieren, dass sich verschiedene Strömungen auf einmal zu einem grossen Protest zusammenfinden und gegen alles protestieren.
Macron muss also sehr klug handeln – auch, weil er in den nächsten Monaten weitere wichtige Reformen geplant hat. Insofern bleibt ein gewisses Mass an Unsicherheit für den Präsidenten – aber kaum für die Arbeitsmarktreform, die Ende Monat beschlossen werden soll und im Oktober vom Parlament abgesegnet wird.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.