SRF News: Der türkische Botschafter wurde bereits aus Berlin zurückgerufen, weitere Schritte sollen bald beraten werden. Wie gross ist die Empörung in den türkischen Medien?
Thomas Seibert: Sie ist sehr gross. Teilweise wird Bundeskanzlerin Merkel mit Hitlerbärtchen abgebildet. Es ist von Verrat der Deutschen die Rede, sie waren ja Verbündete der Osmanen im Ersten Weltkrieg. Ein Rechtsberater von Präsident Erdogan schwang etwa die religiöse Keule und sagte, die Deutschen seien Ungläubige, auf die man sich nicht verlassen könne. Schon im Ersten Weltkrieg hätten sie die Osmanen alleine gelassen. Der türkische Justizministier meinte, die Deutschen hätten Millionen Juden in den Öfen der Konzentrationslager verbrannt. Jetzt würden sie sich erdreisten, den Türken Völkermord vorzuwerfen. Es geht also teilweise deftig zu. Deswegen rufen nun erste Stimmen zur Mässigung auf. Sie sagen, man müsse mit der Entscheidung des Bundestages nicht einverstanden sein. Gleichzeitig solle man aber nicht alle Dimensionen sprengen.
Die Türkei versteht sich als historisch ‹sauberer› Staat – der Vorwurf rüttelt an der Selbstwahrnehmung.
Was stört die Menschen in der Türkei mehr: Das Wort «Völkermord» oder, dass ein ausländisches Parlament über ein Stück türkische Vergangenheit geurteilt hat?
Dass ein westlicher Staat über die Türkei und ihre Geschichte urteilt, ist natürlich ein gewichtiger Faktor für den Unmut. Die Türkei wirft den Europäern auch bei anderen Themen Arroganz, Heuchelei oder Islamfeindlichkeit vor. Die Empfindlichkeit beim Thema Armenien kommt aber auch daher, dass der Vorwurf des Völkermords an der türkischen Selbstsicht rüttelt. Die Türkei versteht sich als historisch «sauberer» Staat; es gibt in der Selbstwahrnehmung keine dunklen Kapitel in der eigenen Geschichte, die nicht aufgearbeitet worden wären. Insofern richtet sich der Vorwurf direkt gegen die Geburtsgeschichte der Türkei. Der vermeintliche Genozid ereignete sich ja wenige Jahre vor der Gründung der Republik 1921.
In türkischen Geschichtsbüchern wird der Mord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern als Kollateralschaden des Ersten Weltkriegs bezeichnet. Gibt es in der Türkei heute auch Stimmen, die das anders sehen und dem deutschen Parlament recht geben?
Es gibt durchaus Intellektuelle, Akademiker und Journalisten, die von einem Völkermord sprechen. Natürlich nehmen auch armenische Verbände diese Position ein. Diesbezüglich hat sich im letzten Jahrzehnt viel getan. Vorher war das Thema mehr oder weniger Tabu. Heute stehen auch Publikationen zum Thema in den Buchläden ganz oben. Allerdings lehnt die grosse Mehrheit der Türken den Begriff «Völkermord» nach wie vor ab.
Präsident Erdogan hat weitergehende Konsequenzen für das deutsch-türkische Verhältnis angedroht. Womit ist zu rechnen?
Das ist die grosse Frage. Die türkische Regierung hat angekündigt, sie werde das Ganze nicht unbeantwortet lassen. Sie hat bereits ihren Botschafter aus Berlin zurückbeordert. Sie hat auch den deutschen Geschäftsträger in Ankara ins Aussenministerium zitiert. Die Türken müssen aber vorsichtig sein. Deutschland ist ihr grösster Handelspartner und der grösste Abnehmer türkischer Exporte. Zudem kommen die meisten ausländischen Touristen aus Deutschland – mehr als fünf Millionen Besucher pro Jahr. Und Deutschland ist der grösste Einzelinvestor in der Türkei. Wirtschaftssanktionen kommen also aus türkischer Sicht überhaupt nicht infrage. Die Rede ist von kleinen Nadelstichen diplomatisch-militärischer Natur. Möglicherweise könnte die deutsche Präsenz auf dem südtürkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik beendet werden. Dort sind deutsche Flugzeuge stationiert, die sich am Kampf gegen den «Islamischen Staat» beteiligen. Ich glaube aber nicht, dass etwas Substanzielles geschieht. Denn das würde sich am Ende gegen die Türkei selber wenden.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.