Es ist ein skandalöser Listenplatz: Kaum irgendwo auf der Welt sind so viele Kinder chronisch mangelernährt wie in Burundi. 54 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind zu klein für ihr Alter.
Körper und Gehirn haben sich nicht richtig entwickelt, weil die Kinder zu wenig Nährstoffe in den ersten Jahren ihres Lebens bekamen. Das werden sie nicht mehr aufholen und ihre geistigen Fähigkeiten nie voll entfalten können.
Emile Nzabi misst und wägt seit dreissig Jahren Kinder im Spital von Ngozi im Norden Burundis. Zu ihm kommen nur diejenigen Kinder, die von akuter schwerer Mangelernährung betroffen sind. Wie es dieser kleine Junge vor zehn Tagen war.
Der dreijährige Roland Bucumi wurde von seiner Mutter ins Krankenhaus gebracht, weil er hustete: eine Lungenentzündung. Der Junge ass nicht mehr, Haare und Haut hatten an Farbe verloren. Sein kleiner Patient sei nun aber auf gutem Weg, so Nzabi. Er habe an Gewicht zugenommen, die Ödeme seien nur noch an den Füssen und Beinen präsent.
Doch man sehe, dass das Kind schon länger chronisch mangelernährt gewesen sei, erklärt der Ernährungswissenschaftler. Der Junge sei zu klein: «Die chronische Mangelernährung zeigt sich an der Grösse der Kinder. Manchmal sehen wir Kinder, deren Alter man auf zwei oder drei schätzen würde, aber das Kind ist schon sechs oder sieben Jahre alt.»
Emile Nzabi beobachtet die Folgen von Mangelernährung seit drei Jahrzehnten: «Manche Kinder sind intellektuell nicht fähig, zur Schule zu gehen. Wir sehen das, wenn wir Spiele mit Schulkindern spielen. Simple Rechenaufgaben können sie nicht.»
Menschen, die in den ersten Jahren ihres Lebens zu wenig Nährstoffe bekommen, werden schneller krank, erbringen die schulischen Leistungen nicht und sind darum im Erwachsenenalter häufiger von Armut betroffen. Laut der Weltbank kann Mangelernährung im Kindesalter deswegen eine Einbusse von bis zu 11 Prozent des Bruttoinlandprodukts eines Landes bedeuten. «Wenn Kinder mangelernährt sind, bezahlt die ganze Gesellschaft dafür», so Emile Nzabi.
Der gesunde Start ins Leben beginnt bereits in der Schwangerschaft. Und die ersten tausend Lebenstage sind entscheidend für die Entwicklung des Kindes. Darum spielen bei der Prävention von Mangelernährung Mütter eine zentrale Rolle. Claudine Minani ist eine Art Mütterberaterin, ausgebildet durch Unterstützung von UNICEF.
Minani erklärt anderen Müttern in der Provinz Ngozi wie man mit wenigen Mitteln eine Mahlzeit zubereiten kann, die alle wichtigen Nährstoffe enthält. Alle anwesenden Frauen sollten eine Zutat für das Gericht mitbringen. Doch das ist nicht einfach. «Die Familien haben schlicht nicht genug zu essen. Die Frauen können nichts mitbringen», erläutert Claudine Minani.
Burundi ist eines der ärmsten Länder der Welt. Kommt hinzu, dass die Böden übernutzt sind. Das Land ist weitaus kleiner als die Schweiz, es wohnen aber rund 12 Millionen Menschen im Land, die fast ausschliesslich von der Landwirtschaft leben. Dieses Problem verstärkt sich täglich. In Burundi hat jede Familie im Schnitt fünf Kinder. Der Boden wird folglich immer mehr beansprucht, die Parzellen pro Kopf kleiner.
Nirgendwo auf der Welt ist die Stillrate in den ersten sechs Monaten so hoch wie in Burundi (83 Prozent aller Mütter). «Doch sobald die Mütter abstillen, wissen sie manchmal nicht, welche Nährstoffe ihre Kinder unbedingt brauchen», so Minani.
Es fehle dann das Gemüse oder die Eiweisse. Die Kinder seien satt, aber erhielten nicht, was sie bräuchten. Viele Mütter waren als Kind selbst mangelernährt, sind kaum zur Schule gegangen. Während der Schwangerschaft und dem Stillen fehlen ihnen selbst die nötigen Nährstoffe.
Das Mittagessen ist fast fertig. Eine Art Eintopf mit allem, was ein Kleinkind benötigt. Die anwesenden Mütter haben gelernt, welche Zutaten unabdingbar sind. Doch sie aufzutreiben, wird für viele auch in Zukunft eine Herausforderung bleiben. Die weitverbreitete chronische Mangelernährung macht die Bevölkerung Burundis besonders anfällig für Armut und Krankheiten. Und somit auch für das Coronavirus.