Für einige reiche Politiker in der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli wurde in den letzten Tagen ein Alptraum wahr: Die Armen trugen ihre Wut und Verzweiflung direkt zu ihnen. Einige aufgebrachte Demonstranten drohten gar, ihre Villen niederzubrennen, weil sich die Politiker um ihre Not foutierten.
Es kam zu Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften, Dutzenden von Verletzten und Sachschaden – ein Demonstrant wurde getötet. Zurzeit gilt im Libanon rund um die Uhr ein strikter Corona-Lockdown. Wie die Armen diesen überleben sollen: Dafür gibt es von der Regierung keinen Plan.
Eine Whatsapp-Nachricht aus Tripoli am Freitagnachmittag: ein Video, das zeigt, wie vereinzelte Demonstranten aus einiger Entfernung eine grosse Tränengaswolke beobachten. Dann die Stimme des 14-jährigen Abdul Rahman Haji.
«Du musst nach Tripoli kommen und Dir ansehen, was hier los ist!», sagt der Jugendliche in einer Sprachnachricht. Im Hintergrund die Rufe von Demonstranten, der Knall von Tränengaspetarden. Aber der Jugendliche redet gar nicht von den Protesten, die weltweit Schlagzeilen machen, sondern von ihrer Ursache. «Die Leute verhungern!», sagt er. Und in einer nächsten Sprachnachricht: «Kinder sterben vor den Spitälern! Wir wollen nicht, dass Leute sterben. Wir wollen eine Krankenversicherung und Zugang zu den Spitälern und den Schulen, wie in anderen Ländern,» sagt der 14-Jährige.
Für Nahrungsmittel töten sich die Leute hier sogar.
Er schickt noch ein Video der Demonstrationen in Tripoli: alles vom Handy eines Freundes. Im August letzten Jahres hat der Jugendliche SRF gezeigt, wo er wohnt: im Armenviertel Bab el Tabbaneh, im Zentrum Tripolis. Zwischen sanierungsbedürftigen Häusern rinnt stinkendes Abwasser aus einem kaputten Leitungsrohr, Strom gibt es, wenn überhaupt, nur wenige Stunden am Tag, die Kinder sind sichtlich unterernährt.
Abdul Rahman Haji stellt seinen arbeitslosen Vater vor und fordert ihn auf, über das Elend im Quartier zu reden. «Die Kinder haben nichts zu essen, trinken, keine Milch – das ist Libanon!» «Für Nahrungsmittel töten sich die Leute hier sogar,» sagt wiederum Abdul.
«Jeden Tag wird jemand erschossen, jeden Tag stirbt jemand.» Staatliche Hilfe bekamen die Armen in Tripoli schon damals im August nicht. Der Lockdown mit einer Ausgangssperre, die seit Mitte Januar rund um die Uhr gilt, sieht ebenfalls keine Überlebenshilfe für sie vor. Verzweiflung und Hunger trieben deshalb Hunderte auf die Strasse.
Gegenseitige Anschuldigungen
Unter ihnen waren oder mischten sich auch Gewaltbereite, die ein Gebäude stürmten, das dem Multimilliardär und ehemaligem Premierminister Najib Mikati gehört. Am Fernsehen drohte dieser mit eigener Waffengewalt, sollte es die Armee nicht umgehend schaffen, ihn und seine Immobilien zu schützen. Hilfe für die Armen erwähnte er dabei nicht. Andere Politiker werfen sich gegenseitig vor, die Situation in Tripoli anzuheizen.
Das macht Abdul Rahman Hagi Sorgen. Er schickt am Freitagabend nochmals eine Sprachnachricht aus Tripoli: «Die Leute haben Hunger. Deshalb werden sie einen Krieg anzetteln. Sie werden ganz sicher einen Krieg beginnen,» sagt der 14-Jährige.
Am Freitag haben die Weltbank und der libanesische Finanzminister einen Vertrag unterzeichnet, der Libanon einen Kredit von 246 Millionen Dollar zusichert. Damit soll den sozial Schwachen geholfen werden. Offen ist aber noch, wie dieses Geld verteilt werden soll.