Was ist passiert? Die Zahl der Todesopfer im Gazastreifen liegt weit höher als von den palästinensischen Behörden angegeben. Das zeigt eine neue Studie von Forschenden aus Grossbritannien und den USA, die in der renommierten Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlicht wurde. Demnach wurde zum Krieg in den ersten neun Monaten um die 40 Prozent zu niedrige Todeszahlen veröffentlicht. Das wären 2.9 Prozent der Vorkriegsbevölkerung im Gazastreifen oder jeder 35. Bewohner. Es gibt allerdings eine gewisse statistische Unsicherheit.
Wer zählt zu den Toten? Die Forschenden schätzen, dass es zwischen 7. Oktober 2023 und Ende Juni 2024 über 64'000 Tote gegeben haben soll. Das palästinensische Gesundheitsministerium sprach damals von knapp 38'000 Toten. Die Autorenschaft gibt keine Schätzung ab, wie viele der Toten palästinensische Kämpfer waren. Knapp 60 Prozent seien aber Frauen, Kinder und Menschen über 65 Jahren. In der Studie nicht mitgerechnet sind Todesfälle aufgrund anderer Kriegsfaktoren wie beispielswiese Krankheiten, schlechte medizinische Versorgung oder Unterernährung, und Vermisste. Das palästinensische Statistikbüro schätzt, dass weitere 11'000 Palästinenser vermisst werden und als tot gelten.
Wie kommen die Zahlen der Studie zustande? Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben dafür drei Datenquellen benutzt: die Sterbeliste des palästinensischen Gesundheitsministeriums aus den Spitälern, eine Umfragestudie des Ministeriums und Todesanzeigen auf Social Media. Diese Datensätze haben sie anhand der sogenannten Capture-Recapture-Analyse miteinander verglichen. Mit dieser Methode kann aus einzelnen Stichproben (Datensätze) die Grösse einer Gruppe (Todeszahl) geschätzt werden. Mehrfachzählungen sind ausgeschlossen.
Die ganze Studie zum Nachlesen:
Wie zuverlässig ist diese Methode? Die Capture-Recapture-Analyse wird immer häufiger genutzt, um die Zahl der Todesopfer in Kriegen zu schätzen. Der Statistiker Patrick Ball von der US-amerikanischen NGO Human Rights Data Analysis Group benutzte in der Vergangenheit bereits diese Methode; unter anderem, um die Todeszahlen in Konflikten in Guatemala, Kosovo, Peru und Kolumbien zu schätzen. Ball sagt gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, dass sich diese Methode über Jahrzehnte bewährt habe und dass die Forschenden «eine gute Schätzung» für Gaza getroffen hätten. Ball war nicht in die Studie involviert.
Wie lässt sich die Unsicherheit der Daten erklären? 64'000 ist eine statistisch hochgerechnete Schätzung mit einem grossen Konfidenzintervall von 20'000. Das bedeutet, dass es statistisch gesehen auch möglich ist, dass die Zahl getöteter Personen 20'000 darunter oder darüber liegt. «Wenn das Konfidenzintervall so gross ist, dann bedeutet das auch, dass die Unsicherheit gross ist, ob die errechnete Zahl von rund 64'000 Toten wirklich die Richtige ist», sagt SRF-Wissenschaftsredaktorin Katharina Bochsler. Dies wiederum habe mit der Qualität der zugrundeliegenden Daten zu tun.