Die Situation im Stahlwerk Asowstal in Mariupol war dramatisch: Wochenlang verschanzten sich dort ukrainische Soldaten und Zivilisten – belagert von russischen Soldaten. Anfangs Woche gab es dann eine Wende. Ukrainische Kämpfer haben sich ergeben, zum Teil sind sie schwer verletzt. Wie viele es sind, ist unklar.
Die Kämpfer wurden evakuiert und sind nun in russischer Gefangenschaft. Die Ukraine hat dieser Evakuation zugestimmt – in der Annahme, die Gefangenen werden anschliessend mit russischen Gefangenen ausgetauscht. Nun verdichten sich jedoch die Hinweise, dass es nicht zu einem solchen Austausch kommen könnte.
Aus dem Kreml hiess es zunächst, die Kriegsgefangenen würden nach internationalen Standards behandelt. Das garantiere Präsident Putin persönlich. Russische Politiker haben das bereits wieder relativiert.
Der Vorsitzende des russischen Parlaments sagte zum Beispiel, «Nazikriminelle sollten nicht ausgetauscht, sondern vor Gericht gestellt werden». Und noch schärfer war der Abgeordnete und Aussenpolitiker Leonid Slutski: «Unmenschen müsse man vor Gericht stellen». Er brachte sogar die Todesstrafe ins Spiel.
«Möglich, dass sich Russland auf Schauprozesse vorbereitet»
In dieses Bild passe auch eine weitere Information: Dass das russische Justizministerium mit der Forderung, das Asow-Regiment zur terroristischen Vereinigung zu erklären, ans Oberste Gericht gelangt sei. Zu diesem Regiment gehören viele der Gefangenen. Das sagt SRF-Auslandredaktorin Judith Huber. Sie betreut das Dossier Russland. «Es scheint möglich, dass man sich in Moskau auf einen Prozess oder Schauprozess gegen einige der Kriegsgefangenen vorbereitet.»
Mit solchen Schauprozessen könnte Putin seine wahnwitzige Erzählung, dass er die Ukraine entnazifiziere, weiterführen. Und auch eine weitere Erzählung könnte er laut Huber weiterspinnen: «Dass Russland gar keine Kriegsverbrechen in der Ukraine begehe.»
Die Ukraine hat begonnen, russische Soldaten für Kriegsverbrechen in der Ukraine vor Gericht zu stellen. «Dem könnte Moskau einen eigenen grossen Prozess entgegensetzen und der Welt und der eigenen Bevölkerung gegenüber behaupten: Seht her, hier sind die echten Kriegsverbrecher, die ukrainischen Nazis.» Das seien zwar Spekulationen, doch würde es ins bekannte propagandistische Vorgehen von Russland passen.
Generell wird über die Lage im Asowstal-Werk viel spekuliert. Für die Stadt Mariupol zeige sich jedoch ein sehr düsteres Bild, sagt Huber. Es sei die Rede davon, dass 90 Prozent der Wohnhäuser zerstört seien. Die verbliebene Bevölkerung leide unter einem Mangel an Nahrung und Medikamenten und sogar Trinkwasser sei rar.
Ein Stahlwerk als Symbol des Widerstands
Der Chef der selbsternannten Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin – einer der wichtigsten prorussischen Figuren der Region – hat verkündet, man werde das beschädigte Stahlwerk Asowstal ganz abreissen.
«Das hätte für den Kreml den Vorteil, dass ein wichtiges Symbol des ukrainischen Widerstands zum Verschwinden gebracht würde. Und ausserdem wird die russische Eroberung von Mariupol wahrscheinlich dazu führen, dass es nie eine unabhängige Untersuchung über russische Kriegsverbrechen, die sich auf Beweise vor Ort stützen kann, geben wird.»