Auf einer verwitterten Holzbank im Tariq-El-Jdideh Quartier sitzt eine alte Frau und zieht fest an ihrer Zigarette. Sie trägt ein schwarzes Kopftuch und einen langen schwarzen Mantel. Den Gebetsruf scheint sie ebenso wenig zu hören wie den Verkehr, der durch das am dichtesten bevölkerten Quartier Beiruts rollt.
Sie ist wütend: «Früher hatten wir alles: Wasser und Strom, jetzt nichts!» sagt sie, und gibt der Regierung Schuld. Nie sei Beirut so voll von Abfall gewesen wie jetzt. Der Gestank, die Fliegen, das mache die Menschen krank. «Sogar im Bürgerkrieg von 1975 war es in Beirut besser als jetzt!», klagt sie bitter. Und erklärt: Damals hätten die Milizen wenigstens eine gewisse Grundversorgung sichergestellt. Aber nicht einmal die könne ihr Staat heute gewährleisten.
Die Regierung ein «Witz»
An einem halbzerstörten Haus mit Einschusslöchern hängt ein grosses Plakat des sunnitischen Premierministers Saad Hariri. Das Tariq-El-Jdideh-Quartier ist mehrheitlich sunnitisch, die Bevölkerung eher arm oder untere Mittelklasse. Es ist aber auch ein Universitätsquartier, und entsprechend viele junge Leute kommen und gehen. Für Politik interessieren sich die wenigsten.
«Wir können nicht auf die Regierung zählen!», sagt Salma, eine Physiotherapie-Studentin. Ob das Land jetzt eine Regierung habe oder nicht, sei ihr völlig egal. Ihre Familie versuche, sich selbst zu versorgen. Sie pflanze im Garten Gemüse an, und sie hätten einen Generator, um Strom zu erzeugen, weil es dauernd Stromausfälle gebe. Die Regierung in diesem Land sei ein Witz: «Es sind alles Diebe».
Die Politik deprimiert uns.
Im Stadtzentrum Beiruts entfernt ein Handwerker zwischen den leeren Cafés und Luxusgeschäften den Weihnachtsschmuck und ersetzt ihn mit Valentinstag-Dekorationen. Am Tag, als die roten Weihnachtssterne roten Herzen Platz machen, bekommt der Libanon endlich eine neue Regierung.
Aber über sie wollen die Angestellten zweier Modeunternehmen während ihrer Rauchpause lieber nicht reden. «Nein, darüber reden wir nicht gerne. Die Politik deprimiert uns», sagen sie. Das Leben hier sei teuer, vom Staat bekämen sie keine Hilfe, sagen sie – aber immerhin hätten sie Arbeit und könnten Geld verdienen.
Wer seinen Hund füttern kann, hat Geld.
Im mehrheitlich reicheren, christlichen Viertel Achrafie läuten die Kirchenglocken. Am Strassenrand macht Bashir Werbung für seinen mobilen Katzen- und Hundesalon, den «Groom Truck». Der gelernte Tierpfleger hat seinen Minivan mit Badewanne, Föhn und Kamera ausgestattet. So könne der Hundebesitzer daheim mit einem Tablet live mitverfolgen, wie es seinem Liebling ergehe.
Früher habe er streunende Hunde frisiert, damit sie schneller adoptiert würden. Jetzt bietet er seine Dienste den Reichen an: «Wer einen Hund füttern kann, kann auch sich selbst ernähren, der hat also Geld. Das ist unsere Kundschaft!»
Kaffee trinken zwischen den Bomben
Vom Klagen seiner Landsleute hält der 35-Jährige nicht viel. Sein Land überstehe auch diese Krise. Schliesslich habe er im letzten Krieg im Bombenhagel mit Freunden auf der Strasse Kaffee getrunken, und auch das hätten sie überlebt.
In seiner Erfahrung hat der Staat immer versagt. Egal, wer gerade in der Regierung war – oder ob es überhaupt eine gab. Diese Erfahrung haben im Libanon viele Menschen gemacht, obwohl das Land seit dem einmonatigen Krieg mit Israel 2006 wieder einigermassen stabil ist.
Erst Stabilität schaffe die Grundlage für Wirtschaftswachstum und Wohlstand, heisst es. Im Libanon habe Stabilität aber einen hohen Preis, sagt Sami Atallah. Der Direktor des Think Tanks Lebanese Center for Policy Studies (LCPS) in Beirut erklärt, warum.
Was wir im Libanon haben, ist eine hohle Stabilität.
Vor dem Bürgerkrieg 1975 sei Macht und Geld bei einer Partei konzentriert gewesen. Nach Bürgerkrieg teilten sich die grossen Parteien diese fast gleichmässig auf. Die Folge davon: «Das Land blieb relativ stabil, weil ein Krieg allen finanziell schaden würde», sagt Atallah.
Was an sich gut ist, habe aber eine Kehrseite. Weil es sich die Politiker gemütlich eingerichtet hätten, seien sie an Entwicklung gar nicht interessiert. «Was wir im Libanon haben, ist eine hohle Stabilität», sagt der Politikwissenschaftler.
Stimmenkauf weit verbreitet
Das Wahlvolk könnte die Politiker aber abwählen, wenn es unzufrieden ist. Atallahs Think Tank hat untersucht, warum es das nicht macht. Das Resultat der Studie: Im Libanon gehen nicht hauptsächlich Junge oder Alte wählen, sondern Erwerbslose und Leute, die politisch gut vernetzt sind. Denn diese erhalten von den Parteien Geld oder Geschenke, damit sie wählen gehen.
Laut der Studie des LCPS geben 40 Prozent der Stimmberechtigten an, bei den letzten Wahlen im Mai 2018 Geld oder Geschenke erhalten zu haben, damit sie wählen gingen. Und für diese paar Brosamen würden diese Menschen die einzige Karte aus der Hand geben, mit der sie Politiker zur Rechenschaft ziehen könnten: nämlich die Möglichkeit, sie abzuwählen.
Wer sich kaufen lasse, stimme immer nur für diejenigen, die ihn kaufen. Ins neue Parlament wurde so denn auch nur gerade ein neues Gesicht gewählt: alle anderen sind Bisherige. Unter diesen Umständen werden es echte Reformen im Libanon schwer haben.