Die junge libysche Demokratie wählt ein neues Parlament. Das jetzige Übergangsparlament hätte bereits letzten Winter ersetzt werden sollen. Die Abgeordneten haben jedoch ihre Amtsdauer eigenmächtig verlängert und so alle Legitimation im Volk verloren.
Laut Andreas Dittmann, Libyen-Experte und Professor für Geografie an der Uni Giessen, ist es beachtlich, dass sich in den politischen Wirren demokratische Strukturen herausgebildet haben. «Das ist ein Quantensprung nach vier Jahrzehnten Diktatur.»
Wüstenstaat vor Zerfall
Ansonsten versinkt der sunnitische Wüstenstaat im Chaos. «Auf der Landkarte ist Libyen noch erkennbar», resümiert Dittmann. Es existiere jedoch nur noch in Küstennähe wirklich. Einige Punkte weisen auf einen Zerfall des Staates hin.
- Keine Kontrolle: Südlich von Tripolis entgleitet dem Staat die Kontrolle. Jede Miliz und jede Gruppierung macht, was sie will.
- Schwache Exekutivkräfte: Die Polizei kann kaum die öffentliche Ordnung aufrechterhalten. Das Militär ist praktisch inexistent. Verschiedenste Gruppierungen bekämpfen sich, entführen Menschen und besetzen Ministerien.
- Abspaltungstendenzen: Islamisten um die ostlibysche Stadt Bengasi wollen ihren eigenen Staat Barqa gründen. Bereits haben die Separatisten eine eigene Regierung geformt und eine Ölfirma gegründet. Im Osten befinden sich die grössten Erdölvorkommen des Landes.
Vier Gruppen
Die Hauptstreitigkeiten mit der Regierung liefern sich jedoch vier Gruppen. Sie wollen entweder einen weltlich oder religiös geprägten Staat und haben ungefähre Einflussgebiete.
- Ansar al-Scharia: Sie ist eine ultrakonservative sunnitische Miliz. Ideologisch von der al-Kaida inspiriert, ist sie die stärkste Kraft im Osten. Die Gruppierung kämpft für ihren unabhängigen Staat Barqa.
- Zintan-Miliz: Die Berber-Truppen halten sich im westlichen Gebirge Dschabal Nafusa auf. Grundsätzlich sind sie pro-westlich orientiert. Die Miliz fordert die Gleichbehandlung der Berber-Kultur und eine radikale Rache- und Bestrafungspolitik gegenüber allen Mitgliedern des Gaddafi-Regimes.
- Tuareg: Das nomadische Berbervolk hält den Südwesten des Landes. Es kontrolliert die Grenzen und macht den Schmuggel durch die Sahara unter sich aus.
- Tubu: Im Süden und Südosten hat diese Bevölkerungsgruppe ihr Einflussgebiet. Sie kämpfen auch gegen die Tuareg um die Vorherrschaft im Schmuggel. Dieser konzentriert sich zunehmend auf die Menschenschlepperei.
Internationale Interessen
Auch international sind die Entwicklungen innerhalb Libyens von Bedeutung.
- Saudi-Arabien und Katar: Die beiden Länder fördern den Aufbau eines islamischen Staates sunnitischer Ausprägung. Die Abspaltungsbewegung im Osten kann sich auf die Hilfe dieser Partner verlassen.
- Subsahara Afrika: Seit dem Sturz Gaddafis erstarken islamistische Milizen in der Region. Waffen erhalten sie über die südlichen Grenzen Libyens. Die Nachbarländer Mali, Niger und Tschad stehen unter starkem französischem Einfluss. In diesen uranreichen Staaten versucht Frankreich, eine Stabilisierungspolitik zu betreiben – auch aus wirtschaftlichen Interessen.
- Westliche Welt: Der Westen will verhindern, dass Libyen zerfällt. Einerseits aus sicherheitspolitischen Überlegungen, als auch aus wirtschaftlicher Sicht. Viele Staaten wollen sich den Einfluss im Mittelmeerraum sichern. Dazu wird der Regierung vor allem Beratung und technologische Weiterentwicklung geboten.
Öl bedeutet Macht
Momentan gibt es laut Dittmann wenig ausländisches Interesse am Wüstenstaat. Grund dafür ist die geringe Nachfrage nach libyschem Öl. Durch die riesige Ölförderung Angolas und Irans ist der Weltmarkt überschwemmt mit schwarzem Gold.
Trotzdem drehe sich der Machtkampf vor allem um das Öl. Libyen verfügt über die grössten Reserven Afrikas. Wer es kontrolliert, dem gehört die Macht. Bereits jetzt verkaufen die Separatisten im Osten Öl und behalten die Gewinne für sich.