2013 sagte Russlands damaliger Kommissar für Kinderrechte Pawel Astachow: «Aufklärungsprogramme wie im Westen wird es in Russland nie geben. Erstens kostet das viel Geld, zweitens zerstört das unsere Kinder.» Bis heute gibt es keine obligatorische Sexualkunde an russischen Schulen.
Die Schulen entschieden meist selber und beschränkten sich auf das Minimum, erzählt Tanja, eine ausgebildete Sexualberaterin, die in Moskau lebt. Sie will nur mit Vornamen zitiert werden.
«An meiner Schule erzählten die Lehrerinnen und Lehrer kurz und knapp von der Pubertät, von der Menstruation und so weiter», so Tanja. Die 24-Jährige ist in Sibirien aufgewachsen. «Dann holten sie einen orthodoxen Priester, der uns sagte, Sex vor der Ehe sei eine Sünde.»
Vulgär und privat
Die Lehrkräfte mieden das Thema, um konservative Eltern nicht zu vergraulen. In den Biologie-Schulbüchern würden die Kapitel zu den Geschlechtsorganen oft übersprungen oder lediglich als Hausaufgabe behandelt. «In vielen Kreisen gilt Sex als etwas Vulgäres, Privates», sagt Tanja.
Hinzu komme jetzt die Kampagne der Regierung. «Die ‹traditionellen Werte› haben die Oberhand», sagt Sexualberaterin Tanja. Der Kreml habe die Sexualkunde lange schlicht vernachlässigt, weil ihm sein konservatives Bild wichtiger gewesen sei. Doch jetzt dominierten die «traditionellen Werte» die Politik.
In der Tat spricht Wladimir Putin seit seiner Grossinvasion der Ukraine immer häufiger davon. «Der Westen versucht, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die unser Volk zersetzen würden», rechtfertigte er den Angriff gleich am ersten Tag des Krieges.
Diese Erzählung dient ihm dazu, Russland als vermeintliche konservative Bastion bei Reaktionären im In- und im Ausland beliebt zu machen. Um das Bild zu unterstreichen, werden queere Menschen in Russland als «Extremisten» diffamiert und der Westen als verweichlicht und dekadent dargestellt.
Die Verschärfung hat auch Tanja zu spüren bekommen: «Ich habe an einem Aufklärungs-Comic gearbeitet, aber das Projekt musste eingestellt werden, weil es das Gesetz nicht erlaubte – da ging es unter anderem auch um gleichgeschlechtliche Paare», sagt sie.
Auszüge aus dem Aufklärungs-Comic von Tanja
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Doch der Staat will mithilfe der «traditionellen Werte» noch ein anderes Ziel erreichen: Russische Frauen sollten mehr Kinder gebären, findet der Kreml. Und so schränken die Behörden – ohne offizielles Verbot – zunehmend den Zugang zu Abtreibungen ein.
Kliniken wird die Lizenz entzogen, Ärztinnen und Ärzte werden unter Druck gesetzt, Frauen vom Schwangerschaftsabbruch abzuraten. «Die Ärzte erzählen der Frau, Abtreibungen seien gefährlich. Sie zählen darauf, dass sich die Frauen nicht auskennen», so Tanja.
Dass echte Sexualkunde in Russland fehlt, ist inzwischen also politisch gewollt. 17 russische Regionen haben auf lokaler Ebene ein Verbot eingeführt, «Frauen zum Schwangerschaftsabbruch zu verleiten», wie es genannt wird. In einigen Kliniken werden Frauen weggewiesen mit der fragwürdigen Erklärung, es gebe keinen Platz für sie.
«Ich habe gewissermassen Glück, ich kenne mich im Thema aus und kenne meine Rechte als Frau», sagt Tanja. «Aber das gibt mir keine Garantie, dass meine Rechte auch respektiert werden.»