Das Engagement der Detroiterinnen und Detroiter für ihre Stadt sei phänomenal, sagt Sozialanthropologin Jennifer Giroux. Wir sitzen in der Cafeteria des sogenannten «Newlab at Michigan Central».
Jahrelang stand das Gebäude leer und verlotterte. Genau gleich wie der ehemalige Bahnhof «Michigan Central» nebenan. Einst das höchste Bahnhofsgebäude Nordamerikas, prunkvoll gebaut im Beaux-Arts-Stil, wurde die Ruine zum Symbol des Niedergangs von Detroit. Bilder der vergangenen Grösse gingen um die Welt. Auch dank Rapper Eminem aus Detroit, der in den verfallenden Hallen Musikvideos drehte.
Ausgerechnet der Automobilkonzern Ford, der durch den Wegzug von Fabriken und Stellenstreichungen zum Niedergang der Stadt beigetragen hatte, kaufte den Bahnhofskomplex und will daraus ein Symbol für Aufbruch und Innovation machen; unter anderem mit einem Forschungszentrum für selbstfahrende Autos, das diesen Sommer eröffnet wird.
Der neue Innovationshub
Bereits eröffnet hat letztes Jahr das Nebengebäude. Es wurde komplett renoviert im modernen Industrial Style. Eingezogen sind Start-ups, Tech-Expertinnen und Experten und Regierungspartner. Auch Jennifer Giroux hat hier ein Büro und berät Unternehmen für Strategien im sozialen Bereich. Sie schwärmt von diesem neuen Begegnungsort: «Hier kommen Menschen zusammen, die an einer neuen Energiezukunft arbeiten, an einer neuen Mobilitätszukunft, an naturbasierten Innovationslösungen.»
Jennifer Giroux ist im Grossraum Detroit aufgewachsen, arbeitete nach dem Doktorat während rund zwanzig Jahren in Sozialanthropologie – unter anderem bei der UNO, der EU oder der Nato und forschte an der ETH Zürich am Center for Security Studies. Dass sie je wieder nach Detroit zurückkehren würde, habe sie sich lange nicht vorstellen können, sagt sie. Doch vor gut drei Jahren habe sie diesen Entscheid mit ihrem Mann getroffen, weil sie gespürt habe, dass in Detroit gerade etwas sehr Aufregendes geschehe. «Wir wollten Teil des Fortschritts dieser Stadt sein und sehen es als einmalige Gelegenheit dazu beizutragen, eine Stadt für alle zu schaffen.»
Der Bahnhofskomplex liegt etwa zehn Autominuten westlich von Downtown Detroit. Im Zentrum sorgten allen voran Immobilieninvestoren für ein Comeback von Detroit. Doch Detroit erstreckt sich über eine riesige topfebene Fläche, die zwanzigmal grösser ist als die ein paar Quadratkilometer grosse Innenstadt. Platz hat es zur Genüge. In den 1950er-Jahren lebten fast zwei Millionen Menschen in Detroit, nun beträgt die Einwohnerzahl mit rund 650'000 nur noch rund ein Drittel davon.
Der Aufschwung erreiche jetzt langsam auch die Aussenquartiere, sagt Jennifer Giroux. Bestes Beispiel seien das Newlab und der stillgelegte Bahnhof Michigan Central, die am Schnittpunkt von drei bisher weniger gut erschlossenen Stadtteilen liegen. Zum Beispiel von «Southwest», wo eine grosse Gemeinschaft von Latinas und Latinos lebt.
Der Stadtgarten
Die Strasse in den Südwesten von Detroit ist dicht befahren mit Lastwagen, die weiter über die Ambassador-Brücke nach Kanada gelangen. Eine Abzweigung führt uns an Wohnhäusern und verlassenen Fabrikgebäuden vorbei auf den Parkplatz der einstigen Cadillac-Autofabrik. Diese hat längst geschlossen, der Parkplatz wird nicht mehr gebraucht. Dies brachte Sarah Clark vor gut zehn Jahren auf eine Idee. Sie erwarb die Nutzungsrechte und begann mit einem urbanen Gemüsegartenprojekt: «Cadillac Urban Gardens».
Verpackungsbehälter, in denen einst Autoteile aus Asien nach Michigan transportiert worden waren, verwandelte sie in Hochbeete. Angebaut wird alles, was im rauen Klima von Detroit wächst. Schnell wurde das Projekt zum Erfolg. Längst sei es mehr als nur ein Gemüsegarten, erklärt Sarah Clark: «Wir haben Madrinas, meist Mexikanerinnen, die uns beibringen, was sie von ihren Grosseltern gelernt hatten. Einige gründeten ein kleines Nebengeschäft, wie Gloria Contreras. Zuerst verkaufte sie Salsa mit Zutaten aus dem Garten zu Hause, nun hat sie einen Foodtruck, der in Detroit sehr erfolgreich ist.»
Diese Initiativen aus der Bevölkerung würden Detroit ausmachen, sagt Sarah Clark, warnt aber gleichzeitig davor, dieses Engagement zu verklären. Oft hätten sie gar keine andere Wahl gehabt, als aktiv zu werden, weil es der Stadt so schlecht ging. Wenn sich zum Beispiel Abfallberge vor der Haustüre türmten, weil die Müllabfuhr nur noch unregelmässig vorbeikam, sei ihnen gar nichts anderes übriggeblieben, als sich im Quartier zu organisieren.
Detroiterinnen und Detroiter würden nie aufgeben, sondern Ideen entwickeln, wie es weitergehen könnte. Auch bei ihr sei die Idee mit den Cadillac Urban Gardens etwas aus der Not entstanden, da sie nach ihrer Eishockeykarriere (unter anderem in der Schweiz) nicht so recht gewusst hätte, was sie machen solle, räumt sie ein.
Eine Technologie für besseren Boden
Bevor wir zur Michigan Central Station zurückkehren, fahren wir in den Norden, in eine Vorstadt von Detroit. In einem Atelier an einer Ausfallstrasse treffen wir Frank Muller zwischen Bohrmaschinen, Werkbänken und Hebekranen. Der Genfer mit Urner Wurzeln liess sich vom Unternehmergeist der Detroiter anstecken und gründete das Start-up «Exlterra», exzellenter Boden.
Mit einer neuartigen Technologie kann ein unterirdisches System Wasservorkommen ausgleichen, Nährstoffe umverteilen und Schadstoffe eliminieren. Verschieden lange Stäbe aus Kunststoff werden in die Erde gebohrt – in bis zu 12 Meter Tiefe. «Sind die Stäbe erstmals installiert, funktioniert alles von allein», sagt Frank Muller.
Der Unternehmer entschied, mit seiner amerikanischen Frau aus Michigan vor gut zehn Jahren nach Detroit zu ziehen. Die ursprüngliche Idee war, in Immobilien zu investieren und nicht in eine grüne, neue Technologie. «Das Konzept weckte aber mein Interesse und die Detroiter haben enthusiastisch auf meine Geschäftsidee reagiert.» Zu sehen, wie sich die Stadt seither radikal verändert habe und der Neustart auch viele junge Leute anziehe, sei beeindruckend.
Profitieren alle?
Nicht nur private Investoren trugen zur Renaissance von Detroit bei. Auch der Staat Michigan investiert, über 100 Millionen Dollar allein in das Milliardenprojekt Michigan Central. Das Newlab sei eine wichtige Plattform für die wirtschaftliche Entwicklung, erklärte jüngst die demokratische Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer. Sie investiert auch mit Geldern der US-Regierung und ist eine enge Vertraute von Präsident Joe Biden.
Michigan ist einer der Schlüsselstaaten bei der Präsidentschaftswahl. 2016 hatte Trump in Michigan gewonnen; 2020 Biden. Wichtig werden für Joe Biden auch die Stimmen der schwarzen Bevölkerung. Bei Investitionen in die Tech-Industrie profitieren die «People of Color» jedoch weniger, da sie in diesem Industriezweig unterrepräsentiert sind.
«Die Tech-Industrie ist sehr ungleich», sagt Johnny Turnage. Er setzt sich dafür ein, dies zu ändern. «Hier im Newlab organisieren wir einmal im Monat die sogenannten ‹Black-Tech-Saturdays›. Alles habe damit begonnen, dass sie sich zu fünft jeweils samstags im Newlab getroffen hätten. Nun, rund ein Jahr später, kämen an gewissen Samstagen bis zu sechshundert Interessierte zusammen. «Wir vernetzen, geben Tipps und es macht Spass zu sehen, wie manche angefangen haben bei Start-ups zu arbeiten», sagt Johnny Turnage.
Eine filmreife Auferstehung
Auch Filmemacher Stephen McGee hat sich im Newlab eingemietet. Der zweifache Gewinner eines renommierten Emmy-Awards dokumentiert Detroit seit fast zwanzig Jahren.
Als der Kalifornier damals beschloss, sich in Detroit niederzulassen, hätten ihm viele davon abgeraten, erzählt er, denn der schleichende Niedergang war spürbar. Doch genau das habe ihn fasziniert und motiviert, zu filmen und fotografieren. Mehrere Kurzfilme hat er schon veröffentlicht.
Bis im Herbst soll aus der Unmenge von Material ein Kinofilm entstehen, mit der Eröffnung des Bahnhofs als finalem Feuerwerk. Michigan Central als Symbol für den Niedergang werde zum Symbol des Neuanfangs. Auch dank Detroitern, die nicht jammern und warten, bis ihnen jemand hilft, sondern anpacken und auch nach dem tiefen Fall der Stadt immer an die Auferstehung glaubten. «Resurgo», lateinisch «ich erstehe auf» heisst denn auch der Film von Stephen McGee.