In der westfranzösischen Stadt Nantes fand gestern Abend ein «Marche blanche», ein Protest- oder Trauermarsch statt. Rund 1000 Menschen nahmen daran teil. Der Anlass: Am Dienstagabend starb ein 22-jähriger Mann afrikanischer Herkunft durch eine Polizeikugel. Darauf kam es zu Krawallen, drei Nächte in Folge brannten Autos und Geschäfte in den Banlieues.
Der Journalist Rudolf Balmer verfolgt die schwelenden Spannungen in den Vororten der französischen Grossstädte seit Jahren. Ihn erstaunen die Vorkommnisse in Nantes nicht.
SRF News: Wie ist der Trauermarsch verlaufen?
Rudolf Balmer: Er verlief ruhig und würdig. So, wie es die Familie des Getöteten gewünscht hatte. Unter den Teilnehmern waren sehr viele afrikanische Familien. Am Ende der Kundgebungen hörte man allerdings Slogans, die man auch aus anderen Städten kennt. «Police partout – Justice null part» (deutsch: «Überall Polizei und nirgends Gerechtigkeit»). Das war auch eine Botschaft der Teilnehmer des Trauermarsches, vor allem der jüngeren unter ihnen.
Gemischte Botschaften also: Solidarität mit dem Getöteten, aber auch Wut?
Auf jeden Fall. Es gibt Forderungen nach Transparenz und Gerechtigkeit. Man möchte die Wahrheit wissen. Dahinter steht ein Misstrauen gegenüber den Behörden, auch der offensichtliche Verdacht, dass etwas verheimlicht wird. Nach dem Schweigemarsch kam es in der Nacht zu neuen Ausschreitungen.
Wenn man dazu Soziologen oder Sicherheitsexperten befragt, sagen sie, dass es erstaunlich sei, dass solche Konflikte nicht häufiger ausbrechen
Es wurden rund 50 Autos angezündet, darunter auch das persönliche Fahrzeug der Bürgermeisterin von Nantes und eine Mittelschule. Die Gewalt hat sich in der letzten Nacht auch noch auf andere Quartiere ausgedehnt.
Die Ereignisse in Nantes wecken Erinnerungen an die Banlieue-Unruhen von 2005. Damals kamen zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei durch einen tödlichen Stromschlag um. Das war der Auslöser für wochenlange Jugendrevolten. Gibt es Parallelen zwischen heute und damals?
Der Kontext ist ähnlich. Es gibt bei einem Teil der Jugendlichen eine latente oder auch offene Wut gegenüber der Polizei, weil sie in bestimmten Quartieren immer dieselben Leute kontrolliert. Und weil sie zum Teil – auch aus Mangel an anderen Mitteln – rein repressiv einschreitet, wenn Jugendliche zu einem öffentlichen Ärgernis für andere Quartierbewohner werden.
Kürzlich hat ein früherer Minister Präsident Macron einen Banlieue-Plan mit sehr vielen Vorschlägen vorgelegt. Der Plan ist direkt in eine Schublade gewandert.
Diese Spannung existiert in sehr vielen Quartieren. 2005 hat das effektiv eine landesweite Welle von Krawallen ausgelöst. Solche Ereignisse kann es immer wieder geben. Wenn man dazu Soziologen oder Sicherheitsexperten befragt, sagen sie, dass es erstaunlich sei, dass solche Konflikte nicht häufiger ausbrechen.
Was macht die Regierung unter Macron, hat sie schon spezielle Massnahmen angekündigt – insbesondere, um die Situation der Jugendlichen in diesen benachteiligten Quartieren in Frankreichs Grossstädten zu verbessern?
Premierminister Édouard Philippe ist gestern nach Nantes gereist. Seine einzige Antwort ist: Mehr Polizei. Was Präsident Macron angeht, hat man in Frankreich den Eindruck, dass diese Fragen für ihn keine Priorität haben. Kürzlich hat ihm ein früherer Minister einen Banlieue-Plan mit sehr vielen Vorschlägen vorgelegt. Der Plan ist direkt in eine Schublade gewandert. Auch der Plan, den Macron zur Armutsbekämpfung vorlegen wollte, ist auf den Herbst verschoben worden. Angeblich – laut einer Ministerin – weil Macron Zeit braucht für die Fussball-WM.
Das Gespräch führte Roger Aebli.