Es ist ein Bild, das Australien seit der grossen Depression 1929 nicht mehr gesehen hat: über 200 Meter zieht sich in der Kleinstadt Goulburn südlich von Sydney die Warteschlange der Verzweifelten – von der Türe zum Arbeitsamt, um einen Häuserblock.
Viele haben noch nie in ihrem Leben Sozialhilfe bezogen. «Ich habe geschuftet, seit ich aus der Schule bin», sagt die 34-jährige Connie (Name geändert). Sie war bis vor kurzem Beraterin bei der Reisebürokette Flight Centre und ist Mutter eines kleinen Sohnes.
Jetzt ist das Unternehmen geschlossen. Niemand reist mehr. Australien ist zwar offiziell nicht im «Lockdown». Doch drohen drakonische Strafen für alle, die sich ohne triftigen Grund draussen aufhalten.
Rund eine Million Australierinnen und Australier sollen in den letzten zwei Wochen ihre Arbeitsstelle verloren haben. Wahrscheinlich sind es mehr. Die übliche Arbeitslosenrate von fünf Prozent werde sich mindestens verdoppeln, wahrscheinlich sogar verdreifachen, so Prognosen.
Tausende von Geschäften sind geschlossen, viele nur temporär – in der Hoffnung auf ein baldiges Ende der Krise, andere wohl für immer. «Ich hatte einen Traum», sagt Jane, die Besitzerin einer kleinen Kleiderboutique, während sie das Schild an der Glastüre auf «Closed» schaltet. Erst im Dezember hatte sie ihren Laden eröffnet. Dann kam Covid-19.
Die Welt schaute neidisch auf Australien
Für Australien ist es das Ende des Traums vom unendlichen Wachstum. Die meisten Analysten rechnen für das Jahr mit einer Rezession. Viele Kommentatoren bringen das Wort fast nicht über die Lippen, so tief sitzt der Schock. Denn noch vor Wochen hatte alles ganz anders ausgesehen.
Über ein Vierteljahrhundert hatte die australische Konjunkturkurve stetig nach oben gezeigt. Durchschnittliche BIP-Wachstumsraten von drei Prozent waren ganz normal. Australien war der Neid der Welt.
Der Boom hatte 1993 begonnen, als nach einer Reihe wirtschaftlicher Reformen und einer langen Rezession die Olympischen Spiele in Sydney im Jahr 2000 ausgerufen wurden. Eine Vitaminspritze für die Wirtschaft – plötzlich schaute die Welt nach Downunder.
Als der Olympia-Hype abzuflachen drohte, begann der Rohstoffboom. Vor allem China konnte von australischer Kohle und Eisenerz nicht genug bekommen. Ob Terroranschläge in New York, Sars, die Finanzkrise 2008: während andere Industriestaaten rote Zahlen schrieben, konnte Australien einfach mehr Rohstoffe in die Welt exportieren.
Eine wachsende Tourismusindustrie und ein von ausländischen Bezahlstudenten angefeuerter Ausbildungssektor wurden zu weiteren Standbeinen der Volkswirtschaft. Und dann der Immobilienboom: angetrieben von wachsenden Einwandererzahlen stiegen die Hauspreise in oftmals astronomische Höhen.
«Ein neoliberales Märchen»
Doch gleichzeitig wurde der Graben zwischen Arm und Reich immer breiter, das Leben am Rande immer schwieriger. Hilfe vom Staat gab es kaum: konservative Regierungen und ihre Unterstützer in den Medien porträtierten Arbeitslose als Unterklasse.
Das Gegenteil war der Fall für die Wohlhabenden: Milliarden Dollar aus dem Rohstoffboom flossen in Steuererleichterungen statt zum Fiskus. Parallel reduzierten konservative Regierungen über Jahre grossflächig die Leistung des Staates und führten das Verursacherprinzip ein, wo immer sie konnten. Gesundheitsversorgung, Schulen und Umweltschutz wurden Opfer einer im Volk latent geschürten Angst vor «zu hohen» Staatsausgaben.
Der Ökonom Richard Denniss von der Denkfabrik Australia Institute spricht von einem «neoliberalen Märchen», dem die Regierung gefolgt sei: «Je kleiner der Staat, desto reicher das Land».
Für den Experten zeigt sich in diesen Tagen, welche fatalen Folgen eine solche Politik haben kann. Nämlich dann, wenn eine Volkswirtschaft mit einem Schock wie Covid-19 konfrontiert wird: «Wenn wir jetzt einen grösseren öffentlichen Sektor hätten, wären wir besser auf Gesundheits- und Wirtschaftskrisen vorbereitet», so Denniss.
Niemand könne heute noch glauben, dass «der Markt» am besten in der Lage sei, das Virus und seine Folgen zu bekämpfen.
Zur Verblüffung so ziemlich jeden Beobachters scheint die konservative Regierung zu genau diesem Schluss gekommen zu sein. Anfang Woche kündigte Premierminister Scott Morrison das grösste Direkthilfepaket in der Geschichte des Landes an.
Die Kehrtwende der Regierung
Der Betrag von 1500 australischen Dollar (rund 885 Franken) alle zwei Wochen soll hunderttausenden von Arbeitslosen ein Überleben bis zum Ende der Krise garantieren. Laut Analysten entspricht die Summe zur Rettung insgesamt fast die Hälfte der jährlichen Staatsausgaben.
«Damit retten wir etwa die Hälfte aller Entlassenen, mindestens», so der Ökonom Chris Richardson von Access Economics. Andere Analysten meinen, dass Morrison schlicht keine Alternative hatte, wenn er nicht einen grossen Teil der Mittelschicht – und damit seiner Wähler – verlieren wollte. Denn plötzlich ist der Arbeitslose nicht mehr ein anonymer Bettler an der Strassenecke, sondern der Nachbar.
«Die Konservativen hatten noch vor wenigen Tagen solche Massnahmen als komplett unakzeptabel verurteilt. Jetzt haben sie praktisch über Nacht ein fast bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt – für viele die ultimative Form des modernen Sozialismus», so ein Kommentator.
Für Richard Dennis ist klar: «Australien ist eines der reichsten Länder der Welt. Mit etwas Glück wird das Virus die bizarre Idee abtöten, dass der Staat es sich nicht leisten kann, Probleme, vor denen wir stehen, zu lösen.»