Das Karrada-Quartier in Bagdad liegt auf einer Halbinsel im Fluss Tigris. Seit 2003, als die Amerikaner Saddam Hussein stürzten, hat das Quartier immer wieder schwere Bombenanschläge erlebt. Auch jetzt, vor den Wahlen, ist die Gefahr von Anschlägen gross. Dass die Menschen abends trotzdem vor den Cafés diskutieren, lachen und rauchen, erstaunt.
Keine Angst vor dem Fall Bagdads
«Ein Iraker fürchtet Anschläge nicht mehr. Er geht aus dem Haus und freut sich am Leben», sagt Abdullah Al-Kinani. Der pensionierte Angestellte sitzt mit seinen Freunden draussen vor einem Café, das bis auf den letzten Tisch besetzt ist. «Natürlich macht es etwas mit mir, wenn ich Verwundete sehe, aber das Leben geht weiter», sagt er. «Wir haben Dutzende von Anschlägen erlebt – aber Bagdad wird nie fallen.» Und: «Der IS ist in den Vororten Bagdads, aber wir fürchten ihn nicht, denn wir blicken hier zurück auf eine über 7000-jährige Zivilisationsgeschichte.»
Natürlich macht es etwas mit mir, wenn ich Verwundete sehe, aber das Leben geht weiter.
Der Künstler Eyad Aliraqi raucht eine Zigarette nach der anderen, während Abdullah spricht. Ohne die Amerikaner direkt zu nennen, beklagt er ihre Invasion des Irak vor 18 Jahren. Sie seien gekommen, um das irakische Land mit seiner Gesellschaft und seinen Traditionen zu korrigieren, wie er sagt, und dafür habe die irakische Bevölkerung einen hohen Preis bezahlt. «Scharen unserer Kinder sind gestorben, für nichts. Was haben wir getan, um das zu verdienen?» fragt er.
Tausende Kandidaten – trotzdem keine Demokratie?
Und er ergänzt: Eines Tages werde die Wahrheit ans Licht kommen, warum Grossmächte den Irak zerstören wollten. Insgesamt vier Männer sitzen an dem kleinen Plastiktisch vor dem Café, andere stehen um den Tisch herum und hören neugierig zu, als die Stammgäste über die vorgezogenen Parlamentswahlen vom kommenden Sonntag zu diskutieren beginnen.
Über 3000 Kandidatinnen und Kandidaten bewerben sich um die 329 Parlamentssitze. Eine Demokratie sei der Irak deswegen trotzdem nicht, sagt einer der Männer, der neben dem Stammtisch steht. Er verweist auf die Hunderten von Demonstranten, die ermordet wurden, ohne, dass die Täter gesucht oder gar zur Rechenschaft gezogen wurden. Alles sei abgekartet, sagt er – wählen gehe er sicher nicht. Ein anderer sagt, er habe sich noch nicht entschieden, ob er seine Stimme abgebe. Die Männer diskutieren auch über die Vetternwirtschaft in der Politik.
Ihr habt es gut: Eure Politiker bringen euch vorwärts.
«In den letzten 18 Jahren haben uns die Politiker bestohlen: Aus ihren Ministerien haben sie Ferienhotels gemacht», sagt der Café-Besucher. «Vor zehn Jahren hatten diese Leute nichts, jetzt sind sie Minister und kaufen millionenteure Hotels, Villen und Schlösser. Mit ihrem Salär alleine könnten sie aber nicht einmal eine einzige Villa kaufen – woher kommt das ganze Geld?»
Wählen oder nicht? Die Männer werden sich nicht einig. «Ihr in der Schweiz habt es gut: Ihr habt Politiker, die euch wahrscheinlich vorwärtsbringen», sagt Kinani. Die irakischen Politiker hingegen führten das Land rückwärts. «Sie sind, wie man auf Arabisch sagt, wie Vierbeiner, die nach hinten pinkeln», sagt er. Dennoch plädiert er als einziger vehement für die Wahlbeteiligung: «Ich kann nicht nach Veränderung schreien und dann am Wahltag zuhause hocken.»