Der indische Richter Ujal Singh Bhatia ist einer der wenigen, die im Berufungsgericht der WTO noch übrig sind, der letzten Instanz der Streitschlichtung mit Sitz in Genf. Und auch Bhatia bleibt nicht mehr lange.
«Von uns drei Richtern wird im Dezember nur noch einer übrig sein», sagt der erfahrene Handelsjurist, der dann in Pension geht. «Wenn die WTO nicht schnell eine Lösung findet, wird die Streitschlichtung lahmgelegt. Denn um einen Fall entscheiden zu können, braucht es gemäss Statuten mindestens drei Richter.»
Viele Entscheide angefochten
Die Streitschlichtung gilt als tragende Säule der Welthandelsorganisation. Und da die Handelswelt kopfüber steht, wird die Schlichtung immer wichtiger.
Handelsjuristen berichten, dass die Streitfälle, die vor der WTO landen, immer komplexer und die Parteien immer streitlustiger werden. 70 Prozent der Entscheidungen werden mittlerweile angefochten und kommen dann vor die Berufungsrichter – theoretisch zumindest. «Die WTO-Regeln sehen vor, dass wir Berufungsfälle innerhalb von 90 Tagen entscheiden müssen», sagt Bhatia.
Mit drei Richtern sei das nicht zu schaffen. Schon jetzt gebe es eine lange Liste unbearbeiteter Fälle.
Wenn die US-Regierung ihre Blockade fortsetzt und im Dezember tatsächlich nur noch ein Richter übrig sein sollte, könnte überhaupt kein Handelsstreitfall mehr abschliessend entschieden werden. Das könnte die gesamte Streitschlichtung der WTO aushebeln, befürchtet der Richter.
«Und lassen Sie mich betonen», sagt Bhatia, «dass die Wichtigkeit, die Glaubwürdigkeit, die Relevanz der ganzen WTO davon abhängt, ob sie ihre Handelsregeln auch durchsetzen kann». Ohne funktionierende Streitschlichtung würde dies schwierig.
Blockade im Interesse der USA
Externe Beobachter wie der Handelsökonom Joseph Francois, Chef des Weltwirtschaftsinstituts an der Universität Bern, teilen diese Sorge. Die WTO sei in einer existenziellen Krise: «Wenn die WTO ihre Regeln nicht mehr durchsetzen kann, fühlten sich die Mitgliedsländer nicht mehr verpflichtet, die Regeln zu befolgen.» Damit gehe auch der Respekt für das regelbasierte, multilaterale Handelssystem verloren, für das die WTO steht.
Der Kanadier vermutet, dass die US-Regierung genau das bezweckt. Denn wenn die WTO ihre Regeln nicht mehr durchsetzen kann, müssten die USA unliebsame Urteile auch nicht mehr befolgen. Das wäre ganz im Sinne von US-Präsident Donald Trump und seiner America-First-Politik.
Im Gegensatz zu Richter Bhatia hat Ökonom Francois die Hoffnung aufgegeben, dass hinter den Kulissen noch eine rasche Verhandlungslösung gefunden wird. Die einzige Chance, die WTO wieder in Schwung zu bringen, sieht er in der Abwahl der Regierung Trump. Doch die US-Präsidentschaftswahl ist noch lange nicht entschieden.