Am Donnerstagmorgen ist im Londoner Stadtbezirk Hackney an der belebten Hauptstrasse ein Polizei-Absperrband rund um einen Gemüseladen gespannt. Ein 15-Jähriger wurde hier tags zuvor um etwa 20 Uhr erstochen, der Täter 18 Jahre alt. Es sind vor allem Jugendliche, die in diesen Tagen um ihr Leben fürchten müssen. Die Zahl der Teenager, die wegen Messerwunden im Spital behandelt werden, hat sich innert fünf Jahren verdoppelt.
Paul McKenzie ist Jugendarbeiter in London: «Die Situation hat sich zugespitzt. Für die Jungs in manchen Quartieren wird sogar der Nachhauseweg von der Schule zum Überlebenskampf.» Motive sind oftmals Rivalitäten zwischen Drogengangs, doch auch Unschuldige werden hineingezogen. Jugendliche, die Mitglied in einer Gang werden wollen, müssen jemanden abstechen, um aufgenommen zu werden.
Immer weniger Orte für Jugendliche
Zu den Ursachen gehören aber auch Sparmassnahmen. So wurde in England in den letzten Jahren im Schnitt über 40 Prozent bei der Sozial- und Jugendarbeit eingespart. Für Paul McKenzie ist klar, dass dies wesentlich zum Problem beigetragen hat: «Dieser Trend wäre zu 100 Prozent vorhersehbar gewesen. Denn jedes Mal wenn ein Jugendzentrum geschlossen wird, hat es einen Ort weniger, wo Jugendliche hingehen können.»
Paul weiss, wovon er spricht: Er war als Jugendlicher selbst in einer Gang und machte Raubüberfälle: «Meine Mutter war alleinerziehend. Ich wollte rasch zu Geld kommen, wollte mir was leisten. Der Gruppendruck spielte auch eine Rolle. Die Gangmitglieder waren Vorbilder.»
Ich will nicht sterben.
Letztlich wurde er für den Besitz eines 15 Zentimeter langen Messers zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Heute nutzt er seine Erfahrungen um Jugendliche zu warnen. Er macht Präventionsarbeit in Schulen und hat seinen eigenen Youtube-Kanal. Aufgeschaltet sind Videos mit Tätern, Opfern oder Drogendealern, die Aussagen meist erschreckend ehrlich.
So erzählt ihm ein 14-Jähriger, warum er ein 30 Zentimeter langes Messer bei sich trägt: «Ich habe das Messer dabei, weil es gross ist. Ich will nicht abgestochen werden. Wenn ich bedroht werde, dann kann ich so den anderen zuerst töten. Ich will nicht sterben.»
Obwohl das Tragen von Messern illegal ist, sind sie leicht verfügbar. Während der Recherchearbeit beobachten wir mit eigenen Augen, wie Jugendliche in einem Londoner Shop für Jagd- und Fischereizubehör sogenannte Rambo-Messer kaufen. Für die Jagd oder Fischerei werden diese vermutlich kaum verwendet.
Im Schaufenster wird angepriesen: Wer drei kauft, kriegt das vierte Rambo-Messer günstiger. Ausgerechnet jenes, welches bei Londoner Gangmitgliedern zu den beliebtesten gehört. Der Shopbesitzer möchte vor der Kamera kein Interview geben. Er sagt nur: «Das ist ein legales Geschäft. Ich werde mich nicht mit Ihnen darüber unterhalten.»
Die Regierung hat striktere Regeln für den Verkauf versprochen, diese wurden bisher aber nicht umgesetzt. Unterdessen steigt die Wut bei hunderten Familien, welche alle um jemanden trauern. Vor dem Parlament in Westminster protestieren sie lautstark.
Eine Mutter schreit ihr Erlebnis ins Mikrophon: «Als ich meinen Sohn auf der Strasse fand, war er blutüberströmt. Das Messer ging direkt durchs Herz. Wenige Minuten später starb er!» Auch Leslie Stewart hat ihren Sohn verloren: «Als Mutter zerbrichst du daran und dennoch dreht sich die Welt weiter. Diese Messerattacken sind zu einer Epidemie geworden.» Viele Mütter lassen ihre Kinder kaum noch auf die Strasse hinaus.
Nicht mal mehr das Gefängnis macht denen Angst. Videos mit rappenden Tätern zeigen doch, Gefängnis ist kein Ding für sie.
Die Familien fordern von der Regierung mehr Geld für die Jugendarbeit. Diese hat Massnahmen versprochen. Die Eltern fordern zudem von Youtube und Google gegen Gewaltvideos vorzugehen. Denn manche Täter preisen in selbstgedrehten Musikvideos ihre Gewalttaten an.
Gangs gaukeln ein cooles Leben vor und prahlen mit geplanten Messerattacken. Paul McKenzie ist überzeugt, das befeuere die Gewalt auf der Strasse und locke Jugendliche in die Gangs: «Für manche Jugendliche sind die Worte in einem solchen Video wie eine Predigt.»
Der Luxus lockt viele an
Eine Gruppe von Eltern und Jugendlichen in einem Aussenbezirk von London hat Paul eingeladen, um über seine Erfahrungen zu sprechen. Die Jugendlichen hören gebannt zu, bei der anschliessenden Diskussion äussern die Teenager ihre Meinung.
Sie alle kennen Schulkollegen, die Messer tragen und in einer Gang sind: «Nicht mal mehr das Gefängnis macht denen Angst, denn auf Instagram kursieren Videos, in denen man die Täter rappen sieht. Das zeigt doch, Gefängnis ist kein Ding für die.» «Die Drogengangs prahlen mit Luxus. Das lockt viele an. Wer will nicht schnell viel Geld machen. Doch es geht nie um etwas Langfristiges, wie etwa ein Haus. Wer lehrt uns was langfristige Ziele sind?»
Es braucht eine positive Weltanschauung
Die Jugendlichen an dem Abend stammen ausschliesslich aus bescheidenen Verhältnissen. Das Problem betrifft überwiegend ärmere Bevölkerungsgruppe. Die Eltern haben kein Geld um sie an bessere Schulen oder an die Universität zu schicken. Lehrstellen gibt es in Grossbritannien kaum, der Start ins Berufsleben ist nicht leicht.
Die britische Regierung hat mehr Geld für Prävention, Jugendarbeit und Polizeieinsätze versprochen. Paul McKenzie ist überzeugt, allein damit kann das Problem nicht gelöst werden. Der Schlüssel um das Gewaltproblem zu bekämpfen ist für ihn ein besserer Start ins Arbeitsleben: «Die Jugendlichen brauchen eine positive Weltanschauung. Eine Gesellschaft, in der Teenager keine Zukunft nach 20 sehen, hat ein Problem. Und das muss angegangen werden.»