Die beiden Fälle, über welche die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) abschliessend entscheiden hat, gehen zurück auf das Jahr 2013. Damals machte der US-amerikanische Whistleblower Edward Snowden publik, in welch gewaltigem Umfang besonders die US- und die britischen Geheimdienste weltweit Kommunikation abhörten – bis hin zum Handy der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Der frühere CIA-Mitarbeiter Snowden lebt heute in Russland im Exil. Von den USA wird er weiterhin per Haftbefehl gesucht. Menschenrechts- und Pressefreiheitsorganisationen hingegen verliehen ihm zahlreiche Preise.
Auf der Linie der Vorinstanzen
Als Folge der Snowden-Affäre klagten etliche Nichtregierungsorganisationen beim EGMR gegen die Massenabhörung – konkret richteten sich die Klagen gegen die britische sowie die schwedische Regierung. Schon in einem vorinstanzlichen Urteil 2018 erhielten sie mehrheitlich recht.
Der letztinstanzliche Richterspruch in Strassburg fiel nun noch deutlicher gegen die angeklagten Regierungen aus. Gerichtspräsident Robert Spano spricht von mehrfacher Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, und zwar von Artikel 8 über die Wahrung der Privatsphäre und von Artikel 10 über den Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit. Zwar sei weder massenhaftes Abhören noch das Sammeln von Kommunikationsdaten grundsätzlich illegal.
Unzulässig sei jedoch, wenn Staaten, hier Grossbritannien und Schweden, das sozusagen «à discrétion» täten, also ohne klare Regeln und strenger Aufsicht. Solches Datensammeln sei zwingend durch eine regierungsunabhängige Instanz, etwa ein Gericht, gutzuheissen. Es reiche nicht, wenn ein Minister oder eine Regierungschefin den Geheimdienst damit beauftrage.
Der Grund für eine Massenabhörung müsse zudem klar benannt und der Umfang des Datensammelns eng abgesteckt werden. Es brauche einen plausiblen Verdacht und hernach eine Interessenabwägung. Auch die Dauer der Abhörung und der Zeitraum der Speicherung seien zu definieren – ebenso der Zeitpunkt des Löschens. Schliesslich müsse überprüfbar sein, ob alle Regeln eingehalten wurden, so der Gerichtshof für Menschenrechte.
Auch den Austausch von Abhördaten zwischen Regierungen erachtet er nicht in jedem Fall als unzulässig. Auch hier verlangt er künftig klare Richtlinien.
Genugtuung für die Kläger
Die Entscheidungen aus Strassburg sind für alle 47 Mitgliedsländer des Europarats verbindlich. Mit den beiden Urteilen wird also der Spielraum für die Staaten erheblich enger, vor allem für jene, die – wie Grossbritannien – das Massenabhören bisher sehr grosszügig gehandhabt haben.
Der Gerichtshof für Menschenrechte stärkt den Klagenden den Rücken. Das zeigt sich auch darin, dass er ihnen mit insgesamt mehreren 100'000 Euro aussergewöhnlich hohe Genugtuungssummen zuspricht.
In der Regel gibt der EGMR seine Urteile schriftlich bekannt. Dass er jetzt die beiden sogenannten «Big-Brother»-Richtersprüche in einer öffentlichen Anhörung mündlich verkündete, zeigt, dass er sie als grundsätzlich erachtet.