Vor 80 Tagen trat die neue IKRK-Präsidentin an, als erste Frau und in einer äusserst schwierigen Zeit mit wachsender humanitärer Not und sinkendem Respekt für das Kriegsvölkerrecht. Aber auch das renommierte Internationale Komitee vom Roten Kreuz gerät unter Druck. In ihrem ersten Interview seit Amtsantritt äussert sich Mirjana Spoljaric Egger nun gegenüber SRF.
SRF News: Wo erkennen Sie die grössten Herausforderungen für das IKRK und für sich selber als Präsidentin?
Mirjana Spoljaric Egger: Ich war vor zwei Wochen in der Ukraine. Davor habe ich Mali besucht. Und seit meinem Amtsantritt habe ich eine Reihe von Gesprächen mit Regierungen über das umfassende Mandat des IKRK geführt. Ich weiss, dass ich eine grosse Verantwortung trage. Nicht nur für die Opfer von Konflikten, sondern auch für rund 22'000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die weltweit für das IKRK im Einsatz sind.
Sie waren in der Ukraine auch an der Frontlinie, wo das IKRK ebenfalls tätig ist. Wie sieht die Lage dort momentan aus?
Ich sah, dass die Not seit Anbruch des Winters zunimmt. Es ist ein sehr kalter Winter. Die Bevölkerung leidet unter den ständigen Stromunterbrüchen. Und noch viel mehr unter zu wenig Trinkwasser.
Der Zugang zu Strom, zu Energie, zu Heizmitteln ist in der Ukraine nach wie vor prekär.
Deshalb konzentriert sich ein Grossteil unserer Arbeit darauf, zusammen mit den lokalen Behörden den Zugang zu Trinkwasser wieder zu ermöglichen. Der Zugang zu Strom, zu Energie, zu Heizmitteln ist nach wie vor prekär. Das ist es auch, was ich als Hauptsorge der Menschen vernommen habe – jetzt, da es sehr kalt wird.
Aus ukrainischer Sicht unternimmt das IKRK zu wenig, um den Zugang zu ukrainischen Gefangenen in russischen Gefängnissen und Straflagern zu ermöglichen. Ist der Vorwurf berechtigt?
Der Hauptgrund meines Besuchs war der Zugang zu Kriegsgefangenen und zivilen Gefangenen. Ich konnte sowohl mit Regierungsvertretern als auch mit Angehörigen der Gefangenen sehr konstruktive Gespräche führen. Sie wissen, dass es schwierig ist. In solchen Konfliktsituationen ist es nie einfach, Zugang zu Gefangenen zu erhalten. Ich engagiere mich persönlich dafür. Und ich stelle seit einigen Wochen fest, dass wir besseren Zugang erhalten. Es ist nicht genug. Aber es gibt eine Verbesserung.
Haben Sie als IKRK-Präsidentin auch Zugang zur russischen Führung? Finden Sie dort Gehör?
Wir sprechen als IKRK mit allen Konfliktparteien weltweit. Und natürlich auch mit Russland. Ich selber spreche mit russischen Vertretern.
Schon vor ihrem Amtsantritt lief eine ukrainische Kampagne, wonach das IKRK Moskau zu wenig entschieden entgegentrete. Wie nehmen Sie die heftige Kampagne wahr? Muss man einfach damit leben?
Bewaffnete internationale Konflikte spielen sich immer in einem hoch polarisierten Umfeld ab. Gerade dieser Konflikt ist zudem sehr stark mediatisiert. Natürlich werden in einem solchen Umfeld auch viele Nachrichten verbreitet, die nicht den Tatsachen entsprechen. Das ist für uns besonders dann problematisch, wenn dadurch unsere Arbeit behindert und die Sicherheit unserer Mitarbeiter gefährdet wird. Und natürlich auch die Sicherheit jener, denen wir helfen müssen.
Ich habe grosses Verständnis für die Frustration der ukrainischen Bevölkerung. Aber ich durfte auch feststellen, dass ein grosser Teil weiss, wie das IKRK arbeitet.
Ich habe grosses Verständnis für die Frustration der ukrainischen Bevölkerung. Aber ich durfte auch feststellen, dass ein grosser Teil weiss, wie das IKRK arbeitet, die Herausforderungen für uns versteht und dankbar ist für das, was wir tun. Für mich ist wichtig, dass wir uns nicht von solchen Kampagnen leiten und unter Druck setzen lassen. Wir müssen zu unseren Prinzipien stehen und unsere Aufgabe unabhängig und vollumfänglich erfüllen.
Die Rede ist von einem baldigen grossen Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine. Sieht es tatsächlich danach aus?
Ein solcher Gefangenenaustausch, von dem die Rede ist, kann nur von Russland und der Ukraine selber initiiert werden. Wir können Unterstützung anbieten, wir tun das auch. Aber nur, wenn wir von den Kriegsparteien darum gebeten werden.
Im russischen Krieg gegen die Ukraine wird das Kriegsvölkerrecht krass missachtet. Aber auch in anderen Konflikten, in Myanmar, in Syrien und vielerorts sonst. Was kann man dagegen tun?
Alle Staaten der Welt haben sich dem humanitären Kriegsvölkerrecht angeschlossen. Sie sind deshalb nicht nur in der Pflicht, sich daranzuhalten, sondern es auch zu fördern. Wir selber können das Recht nicht durchsetzen. Aber wir können die Staaten ermahnen, dass sie die Regeln einhalten und wie sie das tun müssen.
Würde das humanitäre Kriegsvölkerrecht grundsätzlich nicht eingehalten, dann könnte das IKRK überhaupt nicht mehr arbeiten.
Der Eindruck entsteht schnell, dass das Kriegsvölkerrecht generell missachtet wird, weil alle primär über Vergehen berichten und nicht über Fälle, in denen es gut läuft. Würde das humanitäre Kriegsvölkerrecht grundsätzlich nicht eingehalten, könnte das IKRK nicht mehr arbeiten. Wir sind immer wieder frustriert, wenn das Völkerrecht missachtet wird, aber wir sind auch immer wieder froh, wenn es respektiert wird. Die Tatsache, dass wir momentan in rund 100 Konflikten unsere Arbeit tun können, beweist, dass das Kriegsvölkerrecht vielerorts beachtet wird.
Die UNO-Nothilfeorganisation Ocha rechnet mit einem Rekordbedarf an humanitärer Hilfe für 2023 und fürchtet, dass bloss etwa 40 Prozent der benötigten Geldmittel tatsächlich fliessen werden. Steht das IKRK vor demselben Problem?
Das Jahr 2023 könnte durchaus zu einem Jahr grosser humanitärer Not werden. Wir sehen, dass rund 100 Konflikte teils seit langem andauern. Wir sehen keinen politischen Trend, dass es bald weniger werden und manche enden. In der Sahelzone etwa, wo ich eben war, sehen wir einen Teufelskreis von bewaffneten Konflikten, Klimaschock, Armut und sozialer Ungerechtigkeit. Also von Problemen, die sich gegenseitig verstärken. Dazu kommen steigende Energie- und Lebensmittelpreise, allenfalls gar Lebensmittelknappheit, was sich verheerend auf gewisse Weltregionen auswirkt.
Ich rechne deshalb mit einem drastischen Anstieg der humanitären Not, der wir irgendwie beikommen müssen.
Ich rechne deshalb mit einem drastischen Anstieg der humanitären Not, der wir irgendwie beikommen müssen. Das IKRK hat einen Appell über 2.8 Milliarden Franken lanciert. Ich hoffe, dass wir die nötigen Mittel zusammenbekommen. Finanzielle Mittel sind für uns eine zwingende Ressource. Das andere, was wir brauchen ist Zugang – Zugang zu den Opfern, Zugang zu Kriegsgefangenen und zu zivilen Gefangenen im Konflikt.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.