Die Erklärung, die Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan in den frühen Morgenstunden auf Facebook veröffentlichte, war ein Paukenschlag. Er habe mit dem aserbaidschanischen Präsidenten ein Ende der Kämpfe vereinbart – unter Vermittlung Russlands, schrieb Paschinjan. Das sei für ihn selbst und für das armenische Volk sehr schmerzhaft, aber er habe sich nach eingehender Analyse der Lage dafür entschieden.
Die Details der Vereinbarung folgten sogleich – in einer Erklärung von Russlands Präsident Wladimir Putin: Russland sende Friedenssoldaten, die die Waffenruhe überwachen sollten. Es seien knapp 2000 an der Zahl. Sie seien bereits unterwegs.
Wütende Proteste in Eriwan
Armenien muss grosse territoriale Zugeständnisse machen – Aserbaidschan soll die Gebiete behalten dürfen, die es in den letzten Tagen und Wochen erobert hat, inklusive der zweitgrössten Stadt von Berg-Karabach, Schuscha – oder Schuschi, wie sie die Armenier nennen. Ein von den russischen Truppen überwachter Landkorridor soll Berg-Karabach mit Armenien verbinden.
Das alles kommt für viele Armenier einer Kapitulation gleich: Noch in der Nacht liessen Hunderte ihrer Wut im Zentrum der armenischen Hauptstadt Eriwan freien Lauf. Eine erzürnte Menge stürmte sogar mehrere Regierungsgebäude und das Parlament: Sie beschimpften Regierungschef Paschinjan als Verräter und verlangten seinen Rücktritt. Der Glaube an die Unbesiegbarkeit der Truppen der Karabach-Armenier hielt sich bis zuletzt.
Präsident von Karabach verteidigt Entscheid
Doch dann meldete sich der Präsident der nicht anerkannten Republik Karabach, Araik Arutjunjan, zu Wort. Mit leiser Stimme und sichtlich bedrückt verteidigte der 46-Jährige die Übereinkunft. Es hätte nur noch wenige Tage gedauert, bis ganz Berg-Karabach in die Hände der Aserbaidschaner gefallen wäre, sagte er. Noch mehr Menschen wären gestorben.
Tatsächlich hatten die aserbaidschanischen Truppen mit der Eroberung der Stadt Schuscha am Wochenende den Wendepunkt des Krieges herbeigeführt. Von der hoch gelegenen Stadt aus, einer alten Festung, kann die regionale Hauptstadt Stepanakert gut unter Beschuss genommen werden.
Die Stadt, die die Armenier Schuschi nennen, hat für beide Seiten grosse kulturelle Bedeutung. Und für Aserbaidschan war diese Eroberung eines der wichtigsten Ziele der Militäroffensive.
Feiern in Baku mit Vorgeschmack
In Baku wurde am Wochenende dementsprechend gefeiert, als Präsident Ilham Alijew die Einnahme der Stadt verkündete. Auch am Dienstag, nach Verkündigung der Waffenruhe, brach in Baku Jubel aus.
Allerdings mischte sich in den Triumph auch Ernüchterung, denn Aserbaidschan hatte sich bis zuletzt gegen russische Friedenstruppen gewehrt – es wollte den grossen Nachbarn im Norden fernhalten von dem Territorium, das es für sich beansprucht.
Friedensbringer Putin mischt die Karten neu
Doch Russland hat sich durchgesetzt. Mit seinem geschickten Taktieren konnte sich Putin als Friedensbringer inszenieren – und dank der Entsendung der Friedenstruppen den russischen Einfluss im Südkaukasus ausweiten.
Die Karten in der Region sind neu gemischt. Ob die Vereinbarung hält, ist ungewiss. Sie enthält viel Konfliktstoff. Aber immerhin schweigen die Waffen – nach sechs Wochen Krieg und hunderten von Toten auf beiden Seiten.