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Unruhen an Jom Kippur
Aus HeuteMorgen vom 25.09.2023. Bild: keystone/MOHAMMED TALATENE
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Blutige Unruhen an Jom Kippur «Auch nach 75 Jahren ist Israel immer noch im Ausnahmezustand»

Israel begeht Jom Kippur, das Versöhnungsfest. Die Armee ist in Alarmbereitschaft. Denn: Militante palästinensische Gruppierungen haben mit massiver Gewalt gegen Israel gedroht. Von Gaza aus, wo die radikalislamische Hamas regiert. Aber auch im Westjordanland, wo die Hamas und andere bewaffnete Gruppierungen zunehmend Fuss fassen. Die palästinensische Autonomiebehörde, die Teile des Westjordanlands kontrolliert, verweist demgegenüber auf israelische Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung. Susanne Brunner zu den Geschehnissen und Zusammenhängen.

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandsredaktion von Radio SRF.

Hier finden Sie weitere Artikel von Susanne Brunner und Informationen zu ihrer Person.

SRF News: Die israelische Armee hat ein zusätzliches Bataillon an die Grenze zum Gazastreifen geschickt. Was passiert dort?

Susanne Brunner: Im Gazastreifen finden seit Tagen gewalttätige Demonstrationen an der Grenze zu Israel statt. Mehrheitlich junge Männer lassen zum Beispiel Brandballone nach Israel fliegen, die dann auf israelischem Boden Feuer entfachen. Diese Art von Gewalt erinnert an die Massendemonstrationen in Gaza vor fünf Jahren. Damals verursachten Brand- und Sprengkörper aus Gaza in den israelischen Ortschaften an der Grenze täglich Brände und andere Schäden – und natürlich Angst und Schrecken bei der israelischen Bevölkerung. Die israelische Armee schoss damals auf die Demonstrierenden, über 200 wurden getötet, mehr als 36'000 verletzt. Aber auch auf der israelischen Seite gab es Verletzte und Tote. Deshalb hat die Armee mehr Truppen an die Grenze geschickt und am Sonntag auch Ziele der Hamas angegriffen.

Die Hamas baut lieber Raketen, als sich um die Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerung zu kümmern.

Warum eskalieren die Chefs der drei grössten bewaffneten palästinensischen Gruppierungen die Gewalt ausgerechnet jetzt?

Einerseits ist Jom Kippur ein symbolträchtiges Datum. Vor 50 Jahren griffen Syrien und Ägypten Israel an. Israel wurde vom Angriff an seinem höchsten Feiertag zunächst überrascht, konnte aber das Blatt wenden und den arabischen Staaten eine weitere Niederlage zufügen. Dann ist die humanitäre Situation in Gaza katastrophal – noch schlimmer jetzt, weil während der Feiertage Israel immer die Grenze dichtmacht. Niemand kann zur Arbeit nach Israel, niemand kann rein, und das schon seit einigen Tagen. Bis zu einem gewissen Grad will die regierende Hamas davon ablenken. Denn ein Teil dieser Katastrophe geht auf ihr Konto. Sie baut lieber Raketen, als sich um Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerung zu kümmern.

Netanjahus Sicherheitsminister schützt radikale Siedler, wenn diese Palästinenser lynchen oder deren Häuser in Brand stecken.

Der dritte Grund ist: Premier Netanjahus Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir hetzt offen gegen Palästinenser, unterstützt den massiven Siedlungsausbau in den besetzten Gebieten, welchen Israel im Widerspruch zu internationalem Recht bewilligt hat. Ben-Gvir schützt radikale Siedler, wenn diese Palästinenser lynchen oder deren Häuser in Brand stecken. Und das wiederum nutzen die Chefs der drei wichtigsten bewaffneten palästinensischen Organisationen für ihre Zwecke. Kürzlich haben sie sich in Beirut getroffen und mehr Zusammenarbeit und Gewalt gegen Israel verkündet.

Leben im Trauma im Flüchtlingslager in Dschenin

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Legende: Internetcafé im Flüchtlingslager Dschenin, in dem sich Jugendliche in Videogames als bewaffnete Kämpfer üben. SRF

Dschenin im Westjordanland gilt als Hort von palästinensischen Terroristen, v. a. das Flüchtlingslager dort. Die israelische Armee stürmt das Lager immer wieder, in letzter Zeit häufiger und heftiger.

Auslandredaktorin Susanne Brunner hat das Lager vor zwei Wochen besucht und berichtet von elenden Zuständen: «Israelische Soldaten sprengen Löcher in die Wände von Häusern – auch von Unbeteiligten – und versuchen so, zu bewaffneten Kämpfern vorzudringen und Waffenlager in Häusern zu finden. Ich habe mit Kindern gesprochen, die schildern, wie plötzlich Soldaten mit Hunden in ihren Wohnungen stehen, wie sie alles durchwühlen auf der Suche nach Waffen.» Es vergehe aktuell kaum eine Woche, ohne dass es im Lager Verletzte oder Tote gebe.

Die Jungen hätten da keine Perspektive, erlebten stattdessen einen «zynischen Alltag»: «Überall hängen Bilder bewaffneter Kämpfer, getöteter junger Männer. Es ist ein Märtyrerkult. Und Unterhaltung für Jugendliche bietet ausgerechnet ein Internetcafé, in dem sie sich in Videospielen im bewaffneten Kampf üben.» Dem könnten Eltern ihre Kinder nur schwer entziehen, erklärt Susanne Brunner. Denn die Jungen können oft nicht nach Israel ausreisen und seien einem Kreis von Gewalt, Ohnmacht und Gegengewalt ausgesetzt.

Wie steht denn die palästinensische Bevölkerung zu diesen Gruppierungen?

Sie hat ein fast schon schizophrenes Verhältnis zu ihnen. Einerseits geben diese Gruppierungen der Bevölkerung das Gefühl, dass sich jemand für sie wehrt. Denn die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland tut gar nichts, respektive ihr sind die Hände gebunden oder sie gilt gar als Handlangerin Israels. Andererseits sorgen diese bewaffneten Gruppierungen auch für viel Leid mit ihrer sinnlosen Gewalt gegen die stärkste Armee der Region. Sie werden hinter vorgehaltener Hand auch kritisiert. Gleichzeitig treiben die Verzweiflung und die Ohnmacht viele Junge in die Arme dieser Gruppierungen.

Wie erleben denn die Menschen in Israel die Androhung von Terroranschlägen?

Es kommt sehr darauf an, wo man in Israel wohnt. Je näher man an Grenzen ist zu den Palästinensergebieten, desto weniger ist Verdrängung möglich. Da ist auch Angst, auch Trauma. Aber im Grossen und Ganzen verdrängen die Israelis diese Gewalt. Sie sagen: Wir können nicht ständig Angst haben vor einem Terroranschlag. Aber was jetzt viele Eltern merken – ich habe auch eine Freundin mit einer Tochter in der Armee: Diese Kinder können über die Feiertage nicht nach Hause. Viele sind im Sondereinsatz. Das erinnert am höchsten Feiertag auch daran, dass Israel auch nach 75 Jahren immer noch im Ausnahmezustand ist.

Das Gespräch führte Dominik Rolli.

SRF 4 News, 25.09.2023, 7 Uhr ; 

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