Haris Šegalo meldete sich gleich zu Beginn des Bürgerkrieges in Bosnien als Freiwilliger und kämpfte die ganzen drei Jahre des Konflikts in der bosnischen Armee – bis zum Ende im Jahre 1995.
Heute ist er arbeits- und obdachlos. «Tausendmal habe ich ein Gesuch gestellt für eine Wohnung, mit allen nötigen Papieren. Es gibt viele freie Wohnungen in Sarajevo, aber hier ist alles korrupt. Leute bekommen eine Wohnung, die kein Anrecht hätten. Andere wie ich werden in der bürokratischen Mühle zermahlen.»
Nach dem Krieg hat Šegalo zeitweise auf dem Bau und als Kellner gearbeitet. Aber das gehe nicht mehr, sagt er, während er sich die grauen Haarsträhnen hinter die Ohren streicht. Er wirkt nervös. «Ich wurde nicht verletzt im Krieg, aber meine Psyche hat es schwer erwischt. Dreimal war ich in der Psychiatrie. Seither habe ich die Zeit auf Parkbänken und in Hauseingängen verbracht.»
Soll ich zwei Handgranaten nehmen und damit aufs Amt gehen? Den Sicherungsstift herausziehen und dann fliegen wir zusammen in die Luft?
Zudem sagt der Kriegsveteran: «Was soll ich tun, wenn ich wieder einmal zwei Tage lang nichts gegessen habe?». Darüber hinaus stellt Šegalo die Frage: «Soll ich zwei Handgranaten nehmen und damit aufs Amt gehen? Den Sicherungsstift herausziehen und dann fliegen wir zusammen in die Luft? Soll ich zum Gewalttäter werden, weil man mir die Grundlage für ein anständiges Leben verweigert? Mir, der diesen Staat verteidigt hat?»
Mit 14 Jahren in den Krieg gezogen
Eine ähnliche Geschichte erzählt Amir Sultan. Er war gerade einmal 14 Jahre alt, als er anstelle des Schulsacks ein Gewehr schulterte. «Dreimal wurde ich verletzt», erzählt er mit reglosem Gesicht – das linke Auge beinahe geschlossen.
«Die schwerste Operation war nötig, als man mir den halben Kopf weggeschossen hat. Was Sie sehen, ist ein wiederhergestelltes Gesicht. Die teure Operation hat eine Hilfsorganisation nach dem Krieg ermöglicht.»
Sultan erzählt, wie er in Gefangenschaft geriet, in ein Lager gesteckt wurde und was er dort Schreckliches erlebt hat. «Ein gegnerischer Soldat hat einer schwangeren Frau das Baby aus dem Bauch gerissen und es mit blossen Händen getötet. Die Frau haben sie verbluten lassen. Wir waren 180 Häftlinge in der Halle und mussten alle zusehen.»
Die Bilder gehen Sultan noch heute nicht aus dem Kopf. Jeden Tag kommen sie wieder. Sie lassen ihn nicht einschlafen und sie verfolgen ihn im Traum, wenn er dank Medikamenten doch einschläft.
Ein gegnerischer Soldat hat einer schwangeren Frau das Baby aus dem Bauch gerissen und es mit blossen Händen getötet. Die Frau haben sie verbluten lassen.
Haris und Amir stehen stellvertretend für viele Veteranen, die als Jugendliche in den Krieg zogen und die heute noch an den Folgen leiden. Psychische Probleme, Armut und Arbeitslosigkeit treffen Zehntausende.
Auch von denen, die nach dem Krieg eine Stelle fanden, sind heute viele arbeitslos. In der Industrie Bosniens wurde durch zwielichtige Privatisierungen ein grosser Teil der Arbeitsplätze vernichtet.
Der bosnische Staat kümmert sich schlecht um die Menschen, die sich für ihn aufgeopfert haben. Es gibt zwar Unterstützungsgelder für bestimmte Veteranen-Gruppen, aber die Beträge sind klein und reichen oftmals nicht zum Leben. Viele Veteranen wurden von diesem System sogar ganz vergessen.
Die Vergessenen, darunter auch Šegalo und Sultan, haben Monate lang gegen die Ungerechtigkeit demonstriert, unter anderem mit einem Protestcamp in Sarajevo und mit Strassenblockaden im ganzen Land.
Veteranen verlangen eine Entschädigung
Nazil Velić trägt die Forderungen der Protestbewegung vor. Erstens sollen alle Veteranen eine monatliche Entschädigung erhalten. Zweitens soll deren Höhe von der Länge des Kriegseinsatzes abhängen.
Und drittens sollen die vielen «falschen» Veteranen nicht weiter unterstützt werden. «Heute gelten insgesamt 570'000 Leute als Veteranen. Wir wissen aber, dass es am Ende des Kriegs nur rund halb so viele waren», sagt Velić.
Die anderen seien von den regierenden Parteien auf illegale Weise zu Veteranen erklärt worden. Als Gegenleistung für die finanzielle Unterstützung, die sie damit erschlichen haben, verpflichten sie sich den Parteien gegenüber zur Treue und geben ihnen bei den Wahlen ihre Stimme», führt Velić aus.
Es handelt sich um eine Klientelwirtschaft nach dem gleichen Prinzip wie in der Staatsverwaltung und in den vielen Unternehmen, die dem Staat gehören.
Minister weist Vorwürfe zurück
Wer dort eine Stelle bekommt, verpflichtet sich der Partei gegenüber, die an der Macht ist. Das sei der Grund, wieso die gleichen unfähigen Politiker immer wieder gewählt würden, obwohl es den Leuten auch 23 Jahre nach dem Krieg noch nicht besser gehe, sagt Velić.
Salko Bukvarević ist als Minister für die Veteranen zuständig. Er bezeichnet ihre Vorwürfe als Unsinn und glaubt, dass die Proteste von der Opposition organisiert wurden. «Das ist eine der klassischen Lügen hier in Bosnien, dass es viele falsche Veteranen gebe. Wir haben 124'000 Fälle überprüft und weniger als 2000 gefunden, die nicht die nötigen Papiere haben», sagt Bukvarević.
Das Problem ist aber genau, dass diese Papiere von korrupten Beamten ausgestellt werden können. Die Rechtmässigkeit der Papiere sei nur schwer zu überprüfen, sagen Experten.
Das ist eine der klassischen Lügen hier in Bosnien, dass es viele falsche Veteranen gebe. Wir haben 124'000 Fälle überprüft, und weniger als 2000 gefunden, die nicht die nötigen Papiere haben.
Im Lauf des Sommers sind Bukvarević und seine Regierung unter massiven Druck geraten. Die Veteranenproteste hatten in den Medien viel Aufmerksamkeit erlangt.
Proteste niedergeknüppelt
Plötzlich kurz vor den Wahlen von Anfang Oktober gab das Parlament auf einmal nach, erfüllte die Forderungen. Wenig später wurde das Gesetz genauso überraschend wieder auf die lange Bank geschoben.
Als die Veteranen merkten, dass sie ausgetrickst worden waren, gingen sie wieder auf die Strasse. Wütend versuchten sie im Zentrum Sarajevos Kreuzungen zu blockieren. Die Polizei wurde losgeschickt und knüppelte den Protest nieder.
Anel Pervan war dabei, als die Polizei gegen die Demonstranten vorging. Er ist wütend auf die politische Elite seines Landes. «Die Leute, die heute die Polizei gegen uns losschicken, die uns festnehmen und aburteilen lassen, das sind die Leute, die im Krieg reich und mächtig geworden sind», sagt Pervan.
Ausserdem stellt er fest: «Sofort nach dem Krieg wurde mir klar, dass dieser Krieg sinnlos war. Es ging nur darum, dass sich die Anführer bereichern konnten. Es war das Gleiche bei allen drei Bevölkerungsgruppen, die sich bekriegten, bei Bosniaken, Kroaten und Serben».
Sofort nach dem Krieg wurde mir klar, dass dieser Krieg sinnlos war. Es ging nur darum, dass sich die Anführer bereichern konnten.
Zu seinen schlimmen Erinnerungen gehört der Moment, als er begriff, dass seine Einheit missbraucht wurde, um Schmuggelware ins belagerte Sarajevo zu transportieren. Ware, die daraufhin überteuert an die Not leidende Bevölkerung verkauft wurde.
«Die Politiker, die mit dem Schmuggel-Geschäft reich wurden, haben mit ihrem schmutzigen Geld inzwischen protzige Villen gebaut – und zwar genau dort, wo ich im Gefecht drei meiner besten Freunde verloren habe», erzählt Pervan.
Vereint im Leiden mit Serben, Kroaten und Kosovaren
Die bosnischen Veteranen sind mit ihren Problemen nicht allein auf dem Balkan. Auch in Serbien und Kroatien leben die ehemaligen Soldaten in Armut, leiden unter psychischen Problemen und werden von Politikern für Machtspiele ausgenutzt.
Auch im Kosovo gibt es Streit um Zehntausende mutmasslich falsche Veteranen und in Kroatien haben sich über 2700 Veteranen seit dem Krieg das Leben genommen. Die verheerenden Folgen des Kriegs sind auch Jahrzehnte nach seinem Ende nicht ausgestanden.