Der Tempelberg: Im Herzen des Konfliktgebiets
Jeden Tag kommen ein paar jüdische Siedler zum Tempelberg – mit Polizeischutz. Für sie ist das ihr heiligster Ort. Hier soll der israelische König Salomo im 10. Jahrhundert vor Christus den ersten jüdischen Tempel erbaut haben. Er wurde zerstört. Genauso der zweite Tempel vor rund 1950 Jahren. Übriggeblieben ist die Klagemauer. Auf dem Tempelberg dürften Juden nicht beten, dem religiösen Frieden zuliebe.
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Tun sie es trotzdem, sind Konfrontationen so gut wie sicher. Denn wo einst der jüdische Tempel gestanden haben soll, ist heute die Al-Aqsa Moschee. «Diese Juden glauben, die Al-Aqsa-Moschee gehöre ihnen!» empört sich Ahmad, ein älterer Palästinenser. Mit den Christen hätten Muslime keine Probleme. Und auch mit dem grössten Teil der Juden nicht. «Aber einige von ihnen wollen einfach keinen Frieden», sagt Ahmad.
Die Juden: «Ein Volk des Friedens»
Dasselbe sagt der Souvenirverkäufer Yakov, 38, über religiöse Fanatiker unter den Palästinensern. «Gleich da vorne kontrolliert die islamistische Hamas die Strasse.» Woran er das sehe? Wenn Ladenbesitzer plötzlich ihre Geschäfte dichtmachten. In diesen wirtschaftlich schwierigen Coronazeiten mache niemand freiwillig seinen Laden zu, sagt er.
Die Umstände zwingen das jüdische Volk in die Unterdrückerrolle.
Im Mai hätten sich Hamas-Kämpfer während des muslimischen Fastenmonats Ramadan in der Al-Aqsa-Moschee verschanzt. Es kam zu wüsten Szenen, als israelische Sicherheitskräfte darauf die drittheiligste Moschee des Islam stürmten. Die Konfrontationen waren ein Auslöser des Krieges mit der Hamas in Gaza im Mai. Yakov findet die gegenseitige Gewalt schrecklich. «Die Umstände zwingen das jüdische Volk in die Unterdrückerrolle. Das wollen wir gar nicht! Wir sind ein friedliches Volk.»
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Die Palästinenser: «Ausländer in der Heimat»
Munir Nuseibah ist Professor für internationales Recht an der Al-Quds-Universität. Und er ist staatenlos. Obwohl er aus einer muslimischen Familiendynastie kommt, die seit dem 7. Jahrhundert den Schlüssel zur Grabeskirche hütet – das ist heute noch Zeichen des Vertrauens zwischen den Muslimen und den Christen in der Heiligen Stadt.
Seit Israel Ostjerusalem 1967 besetzte und 1980 annektierte, ist der Status der palästinensischen Bevölkerung prekär: Sie bezahlt zwar Steuern und erhält Sozialleistungen, aber die meisten haben weder das israelische Bürgerrecht noch eine Identitätskarte der palästinensischen Autonomiebehörde; einzig eine israelische Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung, die sich aber nicht automatisch auf ihre Kinder überträgt. Zum Teil besitzen sie auch temporäre jordanische Pässe.
«Die Schweiz anerkennt diesen Pass aber nicht», so der Rechtsprofessor. Wenn er zur UNO nach Genf reist, braucht er ein israelisches Reisedokument. Und für die Rückreise nach Jerusalem ein Visum – als ob er in der eigenen Heimat ein Ausländer wäre. Die israelischen Behörden könnten ihm seine Aufenthaltsbewilligung zudem jederzeit entziehen.
Die Schweiz anerkennt diesen Pass nicht.
Dies etwa mit der Begründung, sein Lebensmittelpunkt sei gar nicht in Ostjerusalem. Seit 1967 haben über 14'500 Palästinenserinnen und Palästinenser aus Ostjerusalem ihr Aufenthaltsrecht verloren. Laut Nuseibah verstösst Israel damit gegen das Völkerrecht.
Der Politiker: «Jerusalem jüdischer machen»
Internationales Völkerrecht interessiert Arieh King, 48, Vizebürgermeister von Jerusalem, nicht: «Meine Quelle ist das Original: die Bibel.» King wurde in einem Kibbutz in der Negev-Wüste geboren, an der Grenze zum Gazastreifen. «Es war eine ruhige, sichere Gegend, bis Israel die Kontrolle über Gaza aufgab. Heute schiesst die Hamas aus Gaza auf mein Elternhaus.» In Jerusalem stellte er während des Studiums eine ähnliche Situation fest: «Keine Kontrolle der Regierung.»
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Jüdinnen und Juden hätten Angst, nach Ostjerusalem zu gehen. Sie dürften ja nicht einmal jederzeit den Tempelberg, ihren heiligsten Ort, besuchen, um zu beten – im Gegensatz zu den Arabern. King beschloss, Ostjerusalem jüdischer zu machen. Er gründete den «Israel Land Fund»: Die Organisation erwirbt palästinensische Grundstücke für jüdische Siedlungen. Ihr selbst formuliertes Ziel ist, zu verhindern, dass Araber und Nicht-Juden zu viel Land besitzen. Kings Vision: «Ich will ein grösseres Jerusalem, unter israelischer Souveränität, mit einer deutlichen jüdischen Bevölkerungsmehrheit von über 70 Prozent.»
Nicht Rassismus ist das, es geht ums Überleben.
In Jerusalem sind heute 62 Prozent der Bevölkerung jüdisch, 38 Prozent arabisch und grossmehrheitlich muslimisch. Betrachtet man nur Ostjerusalem, ist das Verhältnis umgekehrt. «Araber raus!», ist das nicht Rassismus? «Nicht Rassismus ist das, es geht ums Überleben», sagt er.
Die Christen: auch Palästinenser
Ums Überleben geht es auch den Palästinenserinnen und Palästinensern in Ostjerusalem. Eine kleine Minderheit sind Christen. In der Regel schweigen sie zum vor allem als jüdisch-muslimisch dargestellten Konflikt. Aber Angriffe extremer jüdischer Siedler auf christliche Palästinenser haben zugenommen. Das macht Erzbischof Theodosios Atallah Hanna vom griechisch-orthodoxen Patriarchat Sorgen.
Der 56-jährige Geistliche stammt aus Galiläa und lebt seit 1990 in Jerusalem. «In der Altstadt gibt es eine Gruppe von extremen jüdischen Siedlern, die uns Christen beschimpfen, bespucken und angreifen.» Er selbst sei kürzlich in der Via Dolorosa angegriffen worden. «Sie wollten mir mein Kreuz entreissen, bedrängten und beschimpften mich», sagt er.
Immer häufiger griffen die Extremisten auch die Al-Aqsa-Moschee und Kirchen an. Und fast immer begleite sie dabei die Polizei. «Die israelische Politik unterstützt die Extremisten direkt oder indirekt», so der Erzbischof. «Die Ereignisse im Mai waren Ausdruck der Wut über die systematische Marginalisierung der Palästinenser in Ostjerusalem.»
Sheikh Jarrah: der zweite Konfliktherd
Ein weiterer Konfliktherd in Ostjerusalem ist das Quartier Sheikh Jarrah: Auf der einen Seite palästinensische Familien, die nach und nach aus ihren Häusern vertrieben werden, obwohl sie seit bald 70 Jahren hier leben, wie der 79-jährige Nabil al Kurd. «Als sie mir mein Haus wegnahmen, weinte ich bitterlich. Ich und meine Frau haben unser ganzes Herzblut in diesen Anbau gesteckt.» Jetzt wohnen dort jüdische Siedler. Diese stehen auf der anderen Seite des Konflikts.
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Siedlerorganisationen – die reichlich Spenden aus den USA erhalten – machen vor Gericht geltend, das Land habe vor 1948 Juden gehört. Entscheiden muss das Höchste Gericht Israels. Eine dieser Siedlerorganisation ist der «Israel Land Fund» von Arieh King.
Verhaftete Palästinenser: Lächeln statt weinen
Alleine im Mai hat die Polizei 1700 Palästinenserinnen und Palästinenser verhaftet. Besonders brutal wurde am 8. Mai die 26-jährige Musikstudentin aus Ostjerusalem, Mariam Afifi, in Sheikh Jarrah verhaftet. Ein israelischer Polizist packte sie an Kopftuch und Haaren, schleifte sie über die Strasse, traktierte sie mit Fusstritten.
«Ich wollte nur einem Mädchen helfen, das keine Luft mehr bekam, weil mehrere Soldaten auf ihm knieten». Das Video ihrer Verhaftung ging in den sozialen Medien viral. Was Afifi jedoch erst richtig berühmt machte, war ihr Lächeln, als sie in Handschellen am Boden sass. Ganz ruhig fragte sie den Polizisten, warum er sie verhafte. Eine ganze Generation junger Palästinenserinnen und Palästinensern teilt ihre Geschichten im Netz.
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«Die anderen Medien stellen uns immer so dar, wie es in ihr Weltbild passt», sagt Afifi. Ein westlicher Journalist habe sie einmal gebeten, über ihr Schicksal als Palästinenserin zu weinen, israelische Medien stellten sie als Terroristin dar und palästinensische Medien wiederum gemäss ihrer Ausrichtung. Sie und ihre Mitmusiker stimmen ihre Instrumente.
Die anderen Medien stellen uns immer so dar, wie es in ihr Weltbild passt.
Die palästinensischen Frauen zeichnen einen Instagramclip auf. Die Hürden sind hoch, bis sie ihr Video posten können. Instagram zensurierte Tausende von Posts mit dem Hashtag «Sheikh Jarrah» und musste sich dafür entschuldigen. Dann kommt auch noch die Polizei, um die Frauen zu büssen: Sie hätten keine Bewilligung, in der Altstadt Musik zu machen.
Shalom, Sheikh Jarrah!
Im Sheikh-Jarrah-Quartier gibt es jeden Freitag eine Demonstration. Gegen die Vertreibung palästinensischer Familien aus ihren Häusern protestieren vor allem Jüdinnen und Juden. Eine von ihnen ist Miki Katz, 44, Mutter von zwei Teenagern. Sie ist die Tochter jüdischer Eltern; einer Amerikanerin und eines rumänischen Holocaust-Überlebenden.
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Miki wurde in Israel geboren, leistete mit Überzeugung ihren obligatorischen Militärdienst. Und doch fragt sie sich: «Wie können wir, nach allem, was wir als Volk erlebt haben, diese Leute einfach auf die Strasse stellen?» Miki wünscht sich, wenigstens diesen einen Konflikt in Sheikh Jarrah zu beenden und die Menschen, die seit Jahren hier wohnen, in Frieden zu lassen. Sie hat nicht viel Hoffnung. Und trotzdem demonstriert sie hier jeden Freitagnachmittag ein bis zwei Stunden lang.