«Das Unterhaus ist gelähmt, es steckt seit dreieinhalb Jahren fest», klagte Premierminister Boris Johnson am Mittwoch vor der Türe zu seinem Amtssitz. Bisweilen wolle er aus Frustration seine eigene Krawatte zerkauen:
I can tell you, I got to the stage where I'll be wanting to chew my own tie in frustration.
Das Parlament bildet bekanntlich ein zerrissenes Volk ab, und die Regierungen Cameron, May und Johnson haben bestimmt eben soviel zur Lähmung beigetragen wie die Abgeordneten.
Doch die Verteufelung des Parlaments, das den Volkswillen sabotiere, kennzeichnet die Regierung Johnson seit ihrem Amtsantritt. Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox Ende September:
This Parliament is a dead Parliament. It should no longer sit. It has no moral right to sit on these green benches.
Dieses Unterhaus sei tot; es habe seinen moralischen Anspruch verwirkt. Die frühere Innenministerin Amber Rudd, die sich nun nicht mehr zur Neuwahl stellt, warnte: Sie flehe den Generalstaatsanwalt an, auf dieses Bild von einem Duell zwischen Parlament und Volk zu verzichten:
Can I urge the Attorney General to cease this language of pitting Parliament against the people.
Rudd gehört zu einer grösseren Gruppe von gemässigten, liberalen Konservativen – Frauen und Männern –, die ihren Abgang aus der Politik verkündet haben.
Paradoxerweise gilt: Die Mitte wird marginalisiert, weil die Tories nach rechts und Labour nach links abgedriftet sind. Das sind die Inhalte, nun zur Form. Die Labour-Abgeordnete Paula Sherriff wandte sich damals direkt an Johnson:
With many of us in this place subject to death threats and abuse every single day, let me tell the Prime Minister that they often quote his words; surrender act, betrayal, traitor – and I for one am sick of it.
Viele Abgeordnete seien täglich Todesdrohungen und Verwünschungen ausgesetzt. Die Täter beriefen sich oft auf Johnson Rhetorik, auf Kapitulation, Betrug und Verrat. Sie habe die Nase voll. Die Sprache müsse gemässigter werden.
Obwohl sich Sheriff unmittelbar davor auf Jo Cox bezogen hatte, die Labour-Abgeordnete, die wenige Tage vor dem Brexit-Referendum von einem Rechtsextremen ermordet worden war, blieb Johnson taub:
I have to say, Mr Speaker, I've never heard such humbug in my life.
Der grösste Schwindel, der ihm je zu Ohren gekommen sei. Die ehemalige konservative Abgeordnete Anna Soubry war entsetzt:
You know, I'm quite a tough cookie. I was reduced to tears that night in the Commons. I had to leave the chamber.
Sie sei ziemlich abgebrüht, aber sie sei in Tränen ausgebrochen und musste die Kammer verlassen, als Johnson die Klage von Paula Sherriff mit dem Wort Humbug quittierte. Soubry wird dauernd persönlich und digital beschimpft und bedroht. Ihr Partner und ihre 84-jährige Mutter ebenso.
Das hat Folgen für alle Abgeordneten, namentlich für Frauen. Die Labour-Abgeordnete Rosie Duffield schilderte gegenüber dem britischen Fernsehen die Warnungen der Polizei:
Not going out alone, not going out in the dark. Those are all necessary, unfortunately, at the moment, but it does make a winter campaign very difficult to conduct.
Sie sollten nicht allein und nicht im Dunkeln unterwegs sein. Sie verstehe das, aber es erschwere einen Winterwahlkampf sehr. Die konservative Parlamentarierin Mims Daviers, die nach nur zwei Jahren ihren Sitz nicht mehr verteidigt, ergänzt:
So, those open surgeries, for example, you just can't do, now, particularly as a woman MP.
Die offenen Sprechstunden im Wahlkreis seien nicht mehr möglich, bestimmt nicht für Frauen.
Die ehemalige Erziehungsministerin Nicky Morgan tritt auch nicht mehr an. Jeden Morgen finde sie neue, grobe und beleidigende E-Mails vor:
Every morning, you turn the e-mails on, and there is more stuff that is rude, offensive.
Es sind viele jüngere Frauen, oft Konservative, immer Gemässigte, die genug von diesen bedrohlichen Anwürfen haben. Die britische Politik wird dadurch enger und gehässiger – und dabei hat der Wahlkampf eben erst begonnen.