Auf dem Ärmelkanal zwischen Frankreich und Grossbritannien spielen sich seit einigen Wochen dramatische Szenen ab. Hunderte von Migranten versuchen in Gummibooten vom europäischen Festland auf die britische Insel zu kommen. Die britische Regierung will durchgreifen und die illegale Einwanderung von Bootsflüchtlingen stoppen. Doch dies könnte mit dem «Brexit» erst recht ein Problem werden.
Kontrolle droht zu entgleiten
«Take back control» – die Wiedererlangung der Kontrolle über Geld, Gesetze und Grenzen war die Kernbotschaft der Brexit-Befürworter. Doch seit einigen Wochen scheint die britische Regierung die Kontrolle verloren zu haben. Jeden Tag landen an der südenglischen Küste verzweifelte Menschen in überfüllten Schlauchbooten. 4000 allein in diesem Jahr. Bilder welche die Erwartungen der konservativen Wählerschaft enttäuschen.
Deshalb machte Premierminister Boris Johnson letzte Woche klar, dass er dieses Drama beenden werde. Für illegale Migranten gebe es im britischen Recht immer noch zu viele Schlupflöcher. Es brauche dringend strengere Einwanderungsgesetze.
Hoffnung auf Franzosen
Vielen konservativen Abgeordneten geht das zu wenig weit. Sie forderten vergangene Woche die Mobilisierung der Kriegsmarine zur Abwehr der Flüchtlingsboote. Ein Abgeordneter erinnerte gar daran, dass Calais bis 1558 im Besitz der Briten war und eine Rückeroberung der französischen Hafenstadt vielleicht ebenso zielführend sein könnte. Die Regierung sandte aber weder Truppen noch Schiffe, lediglich ein Spähflugzeug in die Luft und den Migrationsminister nach Paris. Dort sicherte man sich gegenseitig Unterstützung zu.
Offenbar nicht ganz gratis. 30 Millionen Euro hätten die Franzosen gefordert, um die 300 Kilometer Küstenlinie entlang des Ärmelkanals noch intensiver zu kontrollieren, berichten Insider. Bringen werde es wenig, warnt der frühere britische Aussenminister David Miliband.
Brexit macht Rückschaffungen schwieriger
Das aktuelle Drama zeige exemplarisch, dass der Slogan «Take back control» in der politischen Debatte zwar gut töne, aber die Realität leider anders aussehe. «In einer globalisierten Welt könnten Herausforderungen wie die Migration nicht mehr von einzelnen Nationen gelöst werden», sagt der frühere Aussenminister.
Es braucht internationale Kooperation und Regeln, wie das Dubliner-Abkommen der EU, das klärt, welches Land für die Aufnahme eines Flüchtlings zuständig ist. Wenn ein Flüchtling z.B. bereits in Paris oder Calais einen Asylantrag gestellt hat, kann er von Grossbritannien nach Frankreich zurückgeschoben werden. Der Brexit und das Ende des Dubliner-Abkommens bedeuten dagegen, dass künftig alle Flüchtlinge aus europäischen Ländern, egal ob sie bereits in der EU registriert sind, nach Grossbritannien weiterreisen können und nicht mehr zurückgeschafft werden können.
Die Kontrolle über die eigenen Grenzen könnte für Grossbritannien mit dem Brexit also künftig nicht leichter, sondern eher schwieriger werden.