Der Geheimdienst-Ausschuss des britischen Unterhauses hat jetzt seinen über neun Monate lang unter Verschluss gehaltenen Bericht veröffentlicht und die Regierung Boris Johnsons beschuldigt, allein für diese Verzögerung verantwortlich zu sein.
Russland und seine Handlanger hätten offenkundig versucht, den Ausgang des schottischen Unabhängigkeits-Referendums 2014 zu beeinflussen, doch die britische Regierung habe es fahrlässig versäumt, eine russische Einflussnahme auf das Brexit-Referendum zwei Jahre später zu untersuchen – obwohl im selben Jahr die russische Einmischung in die Innenpolitik der USA aktenkundig geworden sei. Dieser «Mangel an Neugier» bei der britischen Regierung sei empörend.
Ungenügende Abwehr
Der Ausschuss sagt nicht, dass diese Untätigkeit absichtlich erfolgt sei, deutet aber Gründe an. Die Abgeordneten räumen ein, dass sowohl die Geheimdienste als auch die Ministerien grosse Zurückhaltung geübt hätten, gerade weil es sich um den demokratischen Prozess gehandelt habe, in den man sich nicht habe einmischen wollen.
Überdies seien die Kompetenzen sehr verworren und byzantinisch. Der Verdacht muss erlaubt sein, dass konservative britische Regierungen wenig Interesse an der Aufdeckung russischer Manipulationen während des Brexit-Referendums hatten, weil das Resultat dadurch kontaminiert worden wäre.
«Londonistan» und die Oligarchen
Der Bericht kritisiert auch die sanfte Behandlung zweifelhafter russischer Oligarchen durch die britische Regierung. Die Herkunft ihres Reichtums sei nie hinreichend durchleuchtet worden. Ein Netzwerk britischer Anwälte, Steuerberater und Immobilienmakler habe sich de facto zu Agenten russischer Interessen gemacht und effiziente Kontrollen erfolgreich verhindert.
Überdies pflegten zahlreiche Mitglieder des britischen Oberhauses russische Geschäftskontakte. Einige Oligarchen spenden grosse Summen an die Konservative Partei.
Weltpolitik im Fokus
Erst letzte Woche hatte der britische Aussenminister Dominic Raab Russland offen beschuldigt, sich in die britische Unterhauswahl eingemischt zu haben. Dieser Urnengang erfolgte nach der Fertigstellung des Berichts.
Seit der Ermordung der russischen Ex-Geheimdienstagenten Alexander Litwinenko (2006 in London mittels Polonium) und Sergej Skripal (2018 in Salisbury durch ein Nervengift) sind die britisch-russischen Beziehungen ohnehin vergiftet. Nun drängt der einflussreiche Geheimdienst-Ausschuss auf eine noch härtere Gangart.
Suche nach einer neuen globalen Rolle
Gleichzeitig übt ein einflussreicher Teil der konservativen Fraktion erfolgreich Druck auf die britische Regierung aus, um Chinas Machtmissbrauch bezüglich der Kompromittierung des Rechtsstaates in Hongkong zu ahnden.
Diese Konfrontation könnte kostspielig werden, denn chinesische Staatsfirmen sind tief in die britische Wirtschaft, die Energie- und Wasserversorgung sowie den Finanzplatz eingebettet. Diesen Monat machte Johnsons Regierung die Duldung des chinesischen Telekom-Giganten Huawei im britischen Netzwerk rückgängig.
Der neue «Kalte Krieg» mit Russland und China ist die eine Seite; hinzu kommt das am 31. Dezember anstehende Ende der Übergangsperiode der britischen EU-Mitgliedschaft. Die Verhandlungen über einen neuen Handelsvertrag scheinen festgefahren, es droht erneut ein «harter» Brexit. Für das Vereinigte Königreich hat die Suche nach einer neuen globalen Rolle eben erst begonnen; das Gelände könnte kaum unwegsamer sein.