Es war kein gewöhnliches Fernsehdrama, das in diesen Tagen auf dem britischen Privatsender ITV ausgestrahlt wurde. Die Geschichte beginnt mit einer Posthalterin, die völlig ratlos ist, weshalb das Defizit in der Kasse ihrer Postfiliale jeden Abend grösser wird.
Sie ist eine von 4000 britischen Postangestellten, bei denen Ende der 90er-Jahre regelmässig Geld fehlte. So jedenfalls wurde es ihnen vom Buchhaltungscomputerprogramm Horizon suggeriert, das eben neu eingeführt worden war.
Tausende zerstörte Existenzen
Die Vorgesetzten bei Royal Mail waren für ihre verzweifelten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keine grosse Hilfe. Im Gegenteil: Die Post machte ihre Angestellten für die Fehlbeträge verantwortlich. Viele wurden entlassen, 900 mussten sich wegen Betrug und Diebstahl vor Gericht verantworten, 236 wurden in der Folge zu Gefängnisstrafen verurteilt. Viele endeten im finanziellen und persönlichen Ruin. Und einige nahmen sich gar das Leben.
Erst 2019 kam ein Richter aufgrund einer Sammelklage zum Schluss, dass das damalige Buchhaltungsprogramm mit dem Namen Horizon fehlerhaft war und die Verantwortlichen der Post ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Unrecht beschuldigt hatten.
Riesiger Justizirrtum
Der Horizon-Postskandal entpuppte sich als das grösste Justizversagen in der jüngeren britischen Geschichte. 93 der 900 Beschuldigten wurden zwar rehabilitiert und entschädigt. Dutzende sind jedoch verstorben, ohne dass ihr beschädigter Ruf wiederhergestellt wurde. Und viele hatten das Vertrauen in die Justiz längst verloren und verzichteten auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Und der Skandal ging langsam vergessen.
Der Postskandal ist ein absolutes Versagen der Justiz.
«Den Menschen helfen», lautet der Soundtrack der Verfilmung, die das Drama mit voller Wucht ins öffentliche Bewusstsein zurückkatapultierte. Die Ausstrahlung hat landesweit eine Betroffenheit ausgelöst, die selbst Premierminister Rishi Sunak nicht ignorieren konnte.
«Der Postskandal ist ein absolutes Versagen der Justiz. Viele haben dieses Fernsehdrama gesehen und ich gratuliere dem Sender ITV für seine hervorragende Arbeit», sagte Sunak. «Meine Regierung will dieses Problem so schnell wie möglich lösen. Wir wollen das unbürokratisch und rasch tun. Diese Leute wurden miserabel behandelt und wir werden alles tun, um das wiedergutzumachen.»
Der Ruf nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung ist mittlerweile auch im Parlament angekommen. Der Premierminister kündigte heute an, man wolle die betroffenen Postangestellten mit einem Parlamentsbeschluss allesamt rehabilitieren und entschädigen. Die Frage, wie das rechtlich umsetzbar ist, soll baldmöglichst geklärt werden.
Ungeklärt bleibt die Frage, weshalb Schauspielerinnen und Schauspieler erst die realen menschlichen Dramen dieses Skandals nachspielen mussten, bis die britische Regierung gewillt war, sich rasch und ernsthaft um das Schicksal der Opfer des Postskandals zu kümmern.