Erdogan selbst hat oft genug den berühmten Satz wiederholt: «Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.» Das kehrt sich nun gegen ihn wie eine Drohung. Ausgerechnet in «seiner» Stadt – der Wirtschaftsmetropole der Türkei, deren Bürgermeister er war und von wo aus er nach der Macht im ganzen Land griff – in dieser Deutlichkeit abgestraft zu werden, ist ein schwerer Rückschlag.
Offen ist, welche Trümpfe er als Staatspräsident mit den Ausnahmevollmachten einer auf den Leib geschneiderten Verfassung noch ausspielen wird, um Ekrem Imamoglu die Amtsführung zu erschweren. Doch sicher ist, die türkische Opposition hat einen neuen Hoffnungsträger. Imamoglu sprach in der Wahlnacht von einem «Sieg für die Demokratie».
Erodgans Kandidat und treuer Weggefährte Binali Yildirim hatte mit seiner grossen Erfahrung als ehemaliger Premierminister, als Parlamentspräsident argumentiert. Es half nichts.
Trend gegen die AKP
Der Trend läuft neuerdings gegen die erfolgsverwöhnte AKP – nicht nur in Istanbul. Schon im März zeigte sich: in der urbanen Türkei überhaupt tut sich die religiös-konservative AKP inzwischen schwer. Unter den Städten, die sie verlor, ist auch Ankara, die Hauptstadt. Und Erdogan ist zunehmend auf seinen rechtsnationalistischen Koalitionspartner MHP angewiesen.
Die Wirtschaftskrise ist der wohl wichtigste Grund für den Rückschlag. Der Aufschwung unter Erdogan war stark mit dem Bauboom verknüpft. Er kam zum Erliegen, die Ströme von billigem Geld, die jahrelang aus dem Ausland in die Türkei flossen, sind versiegt. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, die Inflation ebenso. Das spielte der Opposition in die Hände, die gegen ihre Gewohnheiten intern auch nicht mehr stritt und sich so selber schwächte.
Votum als «Denkzettel»
Ekrem Imamoglu vermochte aber auch mit dem Vorwurf der Vetternwirtschaft Stimmen zu holen. Selbst Anhänger Erdogans hofften auf einen «Denkzettel». Immer wieder genannt dabei: Erdogans Schwiegersohn, der Finanzminister, er zieht auch parteiintern viel Kritik auf sich.
Auch wurde die Wiederholung der Wahl an sich, auf Klage von Erdogans AKP hin, von vielen offensichtlich als Zwängerei empfunden, bis ins Lager des Präsidenten hinein.
Imamoglu als Hoffnungsträger
Doch der Sieg ist auch das persönliche Verdienst des 49-jährigen neuen Bürgermeisters von Istanbul. Er hat die Politik der Konfrontation, die Erdogans Markenzeichen geworden ist, gezielt unterlaufen, stattdessen hat er davon geredet, dass man Gräben zuschütten müsse. Das stiess offensichtlich auf Resonanz in einem tief gespaltenen Land, wo viele auf einen versöhnlicheren Neubeginn hoffen.
Es gelang ihm auch, sich zu distanzieren vom Image der kemalistischen CHP als elitäre und säkulare Partei. Er zeigte sich als gläubiger Muslim, das hat ihn wählbar gemacht auch für konservativere Schichten.
Vor einem Jahr war Ekrem Imamoglu noch ein weitgehend unbekannter Bezirksbürgermeister eines mittelständischen Istanbuler Vororts, seit gestern Abend hoffen viele in der Opposition auf ihn als künftigen Herausforderer Erdogans auch auf nationaler Ebene.