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Mädchen mit weissen Kopftüchern sitzen mit ihren Schreibheften und -stiften in einem Treppenhaus.
Legende: Der lange Schulweg ist für die Mädchen gefährlich. Daher gründen immer mehr Gemeinschaften eigene Schulen. HRM

Chancengleichheit Afghanistan «Viele Väter glauben an Schulbildung für ihre Töchter»

Unter den Taliban undenkbar: Millionen von Mädchen dürfen heute zur Schule. Doch der Trend ist rückläufig, wie ein Bericht von Human Rights Watch warnt. Co-Autorin Heather Barr im Gespräch.

  • Die Herrschaft der radikalislamischen Taliban ist seit 16 Jahren vorbei, doch noch immer kann nur jedes Dritte Mädchen in Afghanistan eine Schule besuchen.
  • Das zeigt ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, der optimistischeren Schätzungen der Regierung widerspricht.
  • Das ist vor allem deshalb erschreckend, weil die Schulbildung von Mädchen seit vielen Jahren im Fokus ist der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan steht.

SRF News: Sie haben für den Bericht 250 Mädchen in Afghanistan befragt. Können Sie uns eine dieser Begegnungen schildern?

Porträtaufnahme von Barr.
Legende: Heather Barr arbeitet für Human Rights Watch als Expertin für Afghanistan und Frauenrechte. ZVG

Heather Barr: Ein Mädchen ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Sie lebt in Kandahar und kann nicht zur Schule gehen – oder nicht mehr. Ein, zwei Jahre lang war sie in der Schule, aber dann musste sie abbrechen. Ihre Familie konnte sich das Unterrichtsmaterial nicht mehr leisten. Das Mädchen ist 16 Jahre alt, arbeitet als Näherin und versorgt mit ihrem Gehalt die ganze Familie. Sie ist ganz offensichtlich sehr klug, kompetent und eine reife Persönlichkeit. Es war traurig zu sehen, welches Potential da verloren geht. Das Mädchen spielt zwar eine wichtige Rolle in ihrer Familie, aber hätte es die Gelegenheit bekommen, hätte es eine wichtige Rolle in der ganzen Gemeinschaft spielen können – oder sogar im ganzen Land.

Das Mädchen durchwühlt eine Mülldeponie.
Legende: Das 10-jährige Mädchen verkauft gebrauchte Plastikflaschen, um seine 15-köpfige Familie zu unterstützen. HRW

Ein weiteres Problem orten Sie in den stundenlangen Schulwegen. Aber das betrifft Jungen und Mädchen gleichermassen.

Das stimmt natürlich, Jungen und Mädchen sind beide betroffen – aber Mädchen viel stärker. Das hat mehrere Gründe. Erstens einmal behandelt die Regierung Mädchen und Jungen nicht gleich. Es gibt mehr als doppelt so viele Schulen für Jungen wie für Mädchen. Das führt dazu, dass deren Schulwege grundsätzlich deutlich länger und auch viel gefährlicher sind – vor allem, wenn die Lage unsicher ist und es zum Beispiel Kämpfe gibt zwischen der Armee und den Taliban gibt. Viele Familien haben Angst, ihre Mädchen in die Schule zu schicken, weil sie auf dem Weg belästigt oder vergewaltigt werden könnten.

Millionen von Mädchen, die unter den Taliban niemals zur Schule gegangen wären, besuchen heute eine solche. Das ist unbezahlbar.

Wollen die Familien ihre Mädchen nicht zur Schule schicken?

Das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte nicht behaupten, dass es in Afghanistan keine Geschlechterdiskriminierung mehr gibt. Aber ich war positiv überrascht, wie viel sich verändert hat. Ich habe sechs Jahre lang dort gelebt und bin auch jetzt noch regelmässig vor Ort und sehe eine echte Veränderung: Väter, die an Schulbildung für Mädchen glauben, Mädchen, die selber sehr hart für ihre Ausbildung kämpfen, Mütter, die sich für ihre Töchter bessere Chancen wünschen, Brüder, die sich für ihre Schwestern einsetzen. Eltern davon zu überzeugen, ihre Mädchen zur Schule gehen zu lassen, ist natürlich wichtig. Aber in einem ersten Schritt müssen wir dafür sorgen, dass es überhaupt genug Schulen gibt. Das Argument, man baue keine Schulen, weil die Mädchen sowieso nicht hingehen würden, ist einfach nicht wahr.

Wir sind an einem Punkt, wo wir in die falsche Richtung gehen. Und das dürfen wir nicht tolerieren.

Laut Ihrem Bericht gibt es innovative Ansätze, um den Mangel auszugleichen. Welche?

Afghanistan ist ja nicht gerade das Land, bei dem man an Innovation und Pionierarbeit denkt. Aber was die Bildung angeht, ist es das durchaus. Es gibt zum Beispiel Schulen, die von den Gemeinschaften gegründet und geführt werden. Die Idee ist, in Gebieten, in denen es keine oder sehr wenige Schulen gibt, dennoch Unterricht anzubieten. Zum Beispiel bei jemandem zu Hause im Wohnzimmer oder vielleicht unter einem Baum. 20, 25 Kinder kommen zusammen und jemand aus dem Dorf, der eine gewisse Bildung hat, unterrichtet sie. Das klingt jetzt nicht besonders glanzvoll oder einfallsreich, aber es ist definitiv besser als gar nichts. Diese Projekte kosten wenig und sind einfach durchzuführen. Und darum fordern wir von der Regierung: Wenn es ihr wirklich ernst ist mit der Schulbildung von Mädchen, dann muss sie diese Projekte offiziell ins Schulsystem einbinden.

Stimmt der Bericht Sie optimistisch oder resigniert?

Unser Bericht gibt mir selber das Gefühl, dass sich da eine Krise abspielt, die sehr wenig Aufmerksamkeit bekommt. Ich würde niemals sagen, dass die Versuche, mehr Mädchen in die Schule zu bekommen, gescheitert sind. Millionen von Mädchen, die unter den Taliban niemals zur Schule gegangen wären, besuchen heute eine solche. Das ist unbezahlbar. Aber wir sind an einem Punkt, wo es ganz danach aussieht, dass wir uns um 180 Grad drehen und in die falsche Richtung gehen. Und das dürfen wir nicht tolerieren. Die afghanische Regierung darf das nicht zulassen. Dieser Bericht ist für mich ein Aufschrei, um zu sagen: Schaut, das ist, was gerade passiert – und wir müssen hinschauen.

Wir müssen dafür sorgen, dass es überhaupt genug Schulen gibt.

Das Gespräch führte Melanie Pfändler.

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