Die Chefanklägerin Venezuelas treibt die Regierung immer wieder zur Verzweiflung. Kurz nachdem ein Gefreiter der Luftwaffe aus nächster Nähe Gummischrot in die Brust eines Regierungsgegners abfeuerte und diesen tödlich verletzte, sagte Luisa Ortega im Radio: «Die Regierung redet das Geschehene als ‹nicht proportionalen Waffengebrauch› klein. Aber es war simpler Mord.»
Schon lange gehen täglich gegen das Regime Zehntausende von Venezolanern auf die Strasse: 80 Tage Protest, 76 Tote – das ist die vorläufige Bilanz der Unterdrückung. Viel zu viele Opfer, findet Ortega. Doch mit Widerspruch aus den eigenen Reihen umzugehen, das ist keine Stärke von Präsident Nicolás Maduro.
Kritik an Oberstem Gericht zeigt Wirkung
Im Fernsehen bemüht Maduro den Befehlston: Die unbequem gewordene Generalstaatsanwältin Ortega möge zur Vernunft kommen. Oder besser ein für alle Mal den Mund halten. Doch die brutale Repression durch die offiziellen Sicherheitskräfte ist nur der jüngste Kritikpunkt der Generalstaatsanwältin.
Sie beklagt seit Wochen die schleichende Abschaffung der rechtsstaatlichen Institutionen. Im April wies sie darauf hin, dass das willfährige Oberste Gericht das oppositionell dominierte Parlament entmachtete und die gesetzgeberischen Funktionen auf den amtierenden Präsidenten übertragen wollte. Ortega nannte es Verfassungsbruch, und zwang den Machtapparat, zurückzukrebsen.
Doch Maduro verdoppelte den Einsatz umgehend, um sich die Macht auf lange Sicht zu sichern. Venezuela brauche eine neue, zeitgemässere Staatsverfassung, behauptet er. Dass die geltende Verfassung am Anfang eines solchen Prozesses zwingend eine Volksabstimmung vorschreibt, darüber setzt er sich hinweg.
Klage gegen neue Verfassung gescheitert
Ende Juli werden die 545 Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung gewählt. Mit Recht und Gesetz sei die neue Verfassung nicht vereinbar, warnt Ortega. Es gehe eher um ein Werkzeug, um jeden Dissens verstummen zu lassen. Sie klagte vor dem Obersten Gericht, unterlag aber wie erwartet.
Aber jetzt zeigen sich erstmals deutlich die Risse, die quer durch den Chavismus verlaufen. Denn Ortega erhielt öffentlich Unterstützung durch die ehemalige Ombudsfrau, einzelne Regierungsabgeordnete und einen Armeegeneral. Es sind Anzeichen dafür, dass es zum Bruch zwischen dem demokratischen und dem autoritären Flügel in der chavistischen Bewegung kommen könnte.
Die autoritäre Fraktion um Maduro befürchtet, Ortega werde sich mit den bürgerlichen Oppositionellen verbünden und letztlich die Schleusen für den demokratischen Neuanfang öffnen – vielleicht mit ihr selber in einer Schlüsselrolle für die Übergangsphase. Maduro, der Nachfolger des 2013 verstorbenen Hugo Chavez, geht deshalb voll in die Offensive.
Die Zusammensetzung der verfassunggebenden Versammlung will er so manipulieren, dass der autoritäre Teil des Chavismus automatisch triumphiert. Denn Venezuela ist in einem so jämmerlichen Zustand, dass das herrschende Regime keine saubere Abstimmung oder Wahlen mehr gewinnen könnte.
Chefanklägerin steht selbst unter Anklage
Die verfassunggebende Versammlung stünde über allen Staatsgewalten. Sie könnte das lästige Parlament ausschalten, ebenso die lästige Chefanklägerin. Oder gar die 2018 fälligen Präsidentenwahl aussetzen. Für Ortega ist es ein abgekartetes Spiel. Die Generalstaatsanwältin klagt beinahe täglich an, im Fernsehen, im Radio. Der Rechtsstaat sei demontiert. Das heutige Gefüge terrorisiere Maduro-Kritiker und all, die Neuwahlen forderten.
In Institutionen unter der Fuchtel des autoritären Chavismus kommt solcher Klartext schlecht an. Aus Sicht des Obersten Gerichtshof hat Ortega ihre Sorgfaltspflichten verletzt. Die Chefanklägerin steht nun selber unter Anklage. Langjährige Mitstreiter bezichtigen Ortega des Verrats. Denn sie bekannte sich schon zu Chavez, als er in den 1990er Jahren einen Putschversuch inszenierte und dann zu Haft verurteilt wurde. In jungen Jahren war sie Mitglied einer radikalen kommunistischen Splittergruppe, die sich dem bewaffneten Kampf verschrieben hatte. Chavez beförderte sie schliesslich zur Generalstaatsanwältin.
Chavez' Nachfolger Maduro verlängerte vor drei Jahren ihr Mandat, das erst 2021 abläuft. Auch wenn Ortega heute öffentlich für die Demokratie kämpft, so war sie früher dennoch willig, rechtsstaatliche Prinzipien zu missachten. Sie schickte zum Beispiel den bürgerlichen Oppositionsführer Leopoldo Lopez für 14 Jahre hinter Gitter. Angeblich weil er mit seinem Aufruf zu den ersten regierungsfeindlichen Protesten 2014 für den Tod von vier Dutzend Demonstranten verantwortlich sei.
Wegen unbequemer Äusserungen kaltgestellt
Später gab der Staatsanwalt aus dem Büro Ortegas zu, alle Beweise gegen Lopez seien erfunden oder gefälscht gewesen. Er flüchtete danach in die USA. Jetzt, da sich Ortega von der Verbündeten zur Kritikerin gewandelt hat, möchte Maduro die unbequeme Stimme aus dem eigenen Lager zum Verstummen bringen: Venezuela brauche eine Justiz und eine Chefanklägerin, die zur Vernunft kommen müsse, poltert der Staatschef.
Eine Generalstaatsanwältin, die sich politisch nicht mehr steuern lässt, ist für das Regime untragbar. Einmal mehr eilt das willfährige Oberste Gericht zu Hilfe: Es stellte Ortega am Dienstag kalt. Der aktuelle Ombudsmann, einer der ganz autoritären Chavisten, übernimmt die Funktionen des obersten Anklägers des Landes. Ob damit der Stachel im Fleisch des Regimes entfernt ist, bleibt fraglich.