In einem vollgestopften kleinen Zimmer sitzt Aamna Bi auf ihrem Bett. Nur ein Vorhang trennt das Wohnhaus der alten Frau von der lauten Strasse. Wenn sie daran denkt, was die giftige Gaswolke aus ihrem Leben gemacht hat, kommen ihr noch immer die Tränen. «Wenn nur mein Mann noch leben würde. Dann würde er für uns sorgen.»
Doch ihr Mann lebt schon lange nicht mehr. Er ist eines von bis zu 25'000 Opfern einer der grössten Industriekatastrophen aller Zeiten. In der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 entwich aus einer Pestizidfabrik des US-Konzerns Union Carbide im indischen Bhopal eine giftige Gaswolke. Sie überraschte Aamna Bi und ihre sechsköpfige Familie im Schlaf.
«Überall lagen tote Körper»
«Wir wussten nichts von dem Gasunfall. Wir fingen an zu husten, es roch scharf wie verbrannter Chili», erinnert sich die alte Frau. «Ich musste mich übergeben.» Ihnen allen brannten die Augen und schwollen zu. Sie konnten nichts mehr sehen. «Wir fassten uns an den Händen und versuchten, wegzulaufen. Aber überall lagen tote Körper.»
In dieser Nacht verlor Aamna Bi drei Söhne – zwei, acht und zehn Jahre alt waren sie. Ihr Mann wurde noch in der Nacht ins Spital eingeliefert und mit Sauerstoff beatmet. Er blieb ein ganzes Jahr. Dann starb auch er.
Als Entschädigung erhielt die Witwe 25'000 Rupien – umgerechnet gut 280 Franken. Das war ihr Teil der Kompensation, auf die sich der US-Konzern Union Carbide mit der indischen Regierung im Jahr 1989 geeinigt hatte. Die allermeisten Opfer wurden ohne weitere Prüfung in die Kategorie der geringfügig Betroffenen eingeteilt und erhielten 25'000 Rupien – selbst, wenn sie schwere Schäden hatten. Der Konzern zahlte einmalig 470 Millionen Dollar an die indische Regierung – fünf Prozent des damaligen Konzernumsatzes – und kaufte sich damit von jeder Schuld frei.
Aamna Bi brachte ihre Restfamilie mühsam mit Putzarbeiten und immer neuen Krediten durch. «Das Gasunglück hat uns ruiniert. Wir fühlen uns wie Bettler», sagt sie.
Viele Krebserkrankungen, viele Fehlbildungen bei Kindern
Ramesh Bhargav war noch ein junger Arzt, als die Giftwolke über Bhopal zog. Er hatte Nachtschicht im Hamidia-Spital, im Zentrum Bhopals. Das Spital ist nicht weit entfernt von der alten Union-Carbide-Fabrik. «Wir wussten nicht, wie wir die Opfer behandeln sollten», sagt der Arzt, der inzwischen pensioniert ist. «Also gaben wir Steroide und Sauerstoff. Ich fühlte mich hilflos. So viele Tote. Und viel zu wenig Ärzte.»
Union Carbide weigerte sich, zu sagen, welche Chemikalien beim Unglück entwichen waren. Ärzte und Ärztinnen konnten nur die Symptome behandeln. Viele der Gasopfer hätten später chronische Krankheiten entwickelt, sagt der Doktor: Krebs, Tuberkulose und andere Lungenkrankheiten, Herzkrankheiten, Nierenprobleme, Diabetes.
Studien zeigen, dass in Bhopal überdurchschnittlich viele Menschen an chronischen Krankheiten leiden. Inzwischen weiss man auch, warum: Bei dem Unglück entwich das hochgiftige Gas Methylisocyanat aus der Fabrik. Es geriet über die Atmung in den Blutkreislauf und schwächte das Immunsystem.
Es gibt hier keine einzige Strasse ohne Krebs- oder Nierenkranke.
Rachna Dhingra steht am Rand einer Strassenbrücke im alten Teil von Bhopal. Die Aktivistin der Bhopal Group for Information and Action zeigt auf den breiten Teppich von Slums unterhalb der Brücke und sagt: «Es gibt hier keine einzige Strasse ohne Krebs- oder Nierenkranke.» Rund 100'000 Arme wohnten hier zum Zeitpunkt des Unglücks. Deren Enkelkinder leiden heute auffallend oft an Fehlbildungen.
Direkt hinter den Slum-Hütten – und von der Brücke aus gut zu sehen – ragt noch immer die völlig ungeschützte Ruine der alten Union-Carbide-Fabrik in den Himmel. Auf dem Rasen davor grast friedlich eine Herde Ziegen.
«Kinder wachsen nicht richtig»
Auch knapp 40 Jahre nach der Chemiekatastrophe ist niemand auf die Idee gekommen, das Gelände der Union-Carbide-Fabrik zu reinigen – nicht der US-Konzern Dow Chemical, der Union Carbide 2001 gekauft hatte, und auch nicht die Regierung des Bundesstaates Madhya Pradesh, die das verseuchte Gelände und die Unglücksfabrik übernommen hatte.
Das zuständige Ministerium mit dem Namen «Gas Relief & Rehabilitation Department» wollte Fragen weder schriftlich noch mündlich beantworten. Dow Chemical erklärt derweil auf seiner Homepage ausführlich, warum sich der Konzern nicht in der Pflicht sieht.
Dabei gäbe es noch viel zu tun. Aktivistin Dhingra zeigt auf die Elendsviertel unterhalb der Brücke. «Das Grundwasser hier ist einem Umkreis von fast drei Kilometern verseucht», sagt sie. Union Carbide habe seinen Giftmüll über Jahre einfach in oberirdische Teiche entsorgt. Doch das kam erst viel später ans Tageslicht.
Guddi Sen lebt mit ihrer Grossfamilie im Elendsquartier «Blue-Moon», direkt neben der alten Union-Carbide-Fabrik. Drei Generationen unter einem Dach – und fast alle krank. «Ich habe Brustschmerzen und Atemprobleme», sagt Grossmutter Singh. Viele aus der Familie leiden auch unter Hautkrankheiten und Bauchschmerzen. «Und die Kinder wachsen nicht richtig.»
Auch das Wasser war verseucht
Sie hätten alle jahrelang kontaminiertes Wasser getrunken. Auch noch, nachdem vor gut 20 Jahren bekannt wurde, dass das Wasser verseucht ist. «Die Regierung hat Tankwagen gebracht, aber auch dieses Wasser war verschmutzt», sagt Guddi Sen. Aber sie hätten keine Alternative gehabt.
Aus Protest marschierten Betroffene zweimal bis in die indische Hauptstadt Delhi – 37 Tage lang, fast 800 Kilometer weit. Erst vor acht Jahren verlegte die Regierung schliesslich eine Wasser-Pipeline in die betroffenen Slums. Aber die Leitungen seien oft kaputt, erzählen Anwohnerinnen. Das Trinkwasser vermische sich dann mit Abwasser.
Während die Opfer der Wasserkontamination nie eine Entschädigung für ihr Leiden bekamen, hoffen viele Gasopfer noch auf späte Gerechtigkeit durch den Obersten Gerichtshof Indiens. Die indische Regierung hatte beantragt, das Kompensationspaket von 470 Millionen Dollar aus dem Jahr 1989 wieder aufzuschnüren. Mit der Begründung, dass das ganze Ausmass der Schäden für Menschen und Umwelt damals noch nicht bekannt gewesen sei.
Doch die Chancen auf späte Gerechtigkeit stehen schlecht: Kurz vor dem erwarteten Urteil liessen die Richter verlauten, es gebe keinen Grund, das einmal geschnürte Paket neu zu verhandeln. Wenn die Regierung so besorgt sei über die Opfer, dann solle sie doch selbst in die Tasche greifen.