Spanien ist eines der Länder, das am härtesten von der Pandemie getroffen wurde. Mehr als 27’000 Tote hat das Coronavirus in Spanien bereits gefordert. Seit Mitte März herrscht der Alarmzustand, die Menschen durften ihre Wohnungen Monate lang nur zum Einkaufen und für Arztbesuche verlassen.
Wie meistern die Menschen in dieser Zeit ihren Alltag? Was hat sich in der Gesellschaft verändert? Und wie nachhaltig werden diese Veränderungen wohl sein? Sieben Menschen erzählen ihre ganz persönlichen Erlebnisse und teilen ihre Einschätzungen.
Meritxell Gibert, Spitalpflegerin
«Ich arbeite seit 25 Jahren in der Notaufnahme. Und so etwas habe ich noch nie erlebt. Normalerweise haben wir 30 Betten für Notfallpatienten. Jetzt haben wir 90, dreimal so viele. Alle sind belegt. Und alle Patienten werden beatmet. Das ist schon sehr hart, auch für uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Obwohl wir alle an unsere Grenzen kommen, sind wir füreinander da.
Was mir persönlich sehr hilft, ist die Solidarität und die Kameradschaft in unserem Team. Obwohl wir alle an unsere Grenzen kommen, sind wir füreinander da. Heute ist mein 51. Geburtstag. Und meine Kolleginnen haben doch tatsächlich daran gedacht und mich mit einem Kuchen überrascht - trotz allem. Ist das nicht rührend?» (Aufgezeichnet Mitte März)
Jonan Basterra, Journalist und Coronapatient
«Weil alle Krankenhäuser in Madrid überfüllt sind, wurde die IFEMA, das Messegelände der Stadt, kurzerhand in ein Corona-Krankenhaus umfunktioniert, innerhalb von 48 Stunden. Das muss man sich mal vorstellen!
Jeden Tag stecken sich immer mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an.
Die Medien berichten viel über die prekäre Situation in den Spitälern. Jeden Tag stecken sich immer mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an, weil zu wenig Masken und Handschuhe zur Verfügung stehen. Aber ganz ehrlich: Davon habe ich nichts gemerkt. Ich bin jetzt seit knapp einer Woche hier und wir Patienten wurden von Anfang an super betreut.
Wenn die Ärzte und Pflegerinnen sagen, dass hier Chaos geherrscht und es ihnen an Material gefehlt hat, dann glaube ich ihnen das natürlich. Aber uns Patienten lassen sie das nicht spüren. Sie sind Vollprofis und machen einen tollen Job.» (Aufgezeichnet Mitte März)
Vicente Esplugues, katholischer Priester
«Der Palacio de Hielo, das Eisstadion von Madrid, war immer ein Ort der Freude für mich – ich habe ihn regelmässig besucht, weil ich ganz in der Nähe wohne. Nun haben die Behörden beschlossen, hier eine Aufbahrungshalle zu errichten. Die Krematorien und Bestattungsunternehmen sind überlastet, deshalb bringt man die Verstorbenen hierher.
Ich weiss nichts über die Menschen, die hier vor mir liegen, in den hunderten von Särgen.
Meine Besuche laufen immer nach demselben Muster ab: Am Eingang des Stadions weise ich den Geleitbrief des Bistums vor, damit die Soldaten und Polizisten mich passieren lassen. Geschützt mit Handschuhen und einer Gesichtsmaske betrete ich die Eisfläche, suche mir einen ruhigen Platz am Rand, spreche ein Gebet und segne die Verstorbenen mit Weihwasser.
Ich weiss nichts über die Menschen, die hier vor mir liegen in den hunderten von Särgen. Und nicht einmal ihre Verwandten wissen, dass sie hier sind. Die meisten Familien erhalten einen Anruf aus dem Spital oder dem Altersheim und erfahren, dass die Person verstorben sei – aber nicht, wo sie ist. Bei vielen hinterlässt dies ein Gefühl von Schuld. Und eine grosse Leere.» (Aufgezeichnet Ende März)
Raquel Sastre, Komikerin
«Ich weiss, das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber: Wir erleben gerade eine Hochkonjunktur des Humors. Die Witze über das Coronavirus haben Spanien schneller erreicht, als das Virus an sich. Auf den sozialen Netzwerken werden laufend neue Sprüche und Memes geteilt.
Die Witze über das Coronavirus haben Spanien schneller erreicht, als das Virus an sich.
Und dahinter stecken nicht etwa Leute wie ich, die das beruflich machen, sondern der Supermarktkassierer, die Coiffeuse, der Arzt oder der Heizungsmonteur. Das ist doch wunderschön! Diese Fähigkeit, das Unerträgliche ein wenig leichter zu machen.
Ich bin überzeugt: Eine Gesellschaft braucht Humor, um eine solche Situation zu überstehen. Spanien hat diesbezüglich ein besonderes Talent: zu lachen, selbst in Momenten tiefster Trauer. So ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, an Beerdigungen Witze zu reissen – selbst über die Toten.
Kürzlich ist mein Onkel Paco gestorben. Er litt jahrelang an einer schweren Nervenkrankheit, die ihn am ganzen Körper hat zittern lassen. Am Tag der Beerdigung trat meine Tante, die Schwester von Paco an dessen Sarg und sagte: ‹Oh schau! Jetzt wirken sie plötzlich, die Medikamente – er liegt ganz still.›
Damit wir uns richtig verstehen: Es ist nicht so, dass wir Spanierinnen und Spanier die Situation nicht ernst nehmen. Aber was soll man sonst tun? Um weiterzumachen? Um zu überleben?» (Aufgezeichnet Mitte April)
Santiago Niño-Becerra, Ökonom
«Spanien hat in dieser Krise eine ganz andere Ausgangslage als etwa Dänemark, die Niederlande oder die Schweiz. Die spanische Wirtschaft war schon vor der Pandemie in einem schlechten Zustand. Dazu kommt, sie ist extrem stark vom Tourismus abhängig. Rund 12 Prozent trägt die Tourismusbranche bei zum spanischen BIP.
Die spanische Wirtschaft muss sich neu erfinden, komplett umstrukturiert werden.
Das Problem ist: Es handelt sich dabei vor allem um Billigtourismus. Um All-inclusive-Hotels, um Jugendliche, die zum ersten Mal allein in die Ferien fliegen, um Partygäste auf Mallorca und in Lloret del Mar. Und genau diese Sparte wird sich am langsamsten von diesem Schock erholen. Abstandsregeln, strenge Hygieneauflagen und Billigtourismus – das passt nicht zusammen.
Die spanische Wirtschaft muss sich neu erfinden, komplett umstrukturiert werden. Aber wie? Selbst wenn das gelingen sollte, wird es Jahre dauern.
Fest steht, die Krise trifft jene am stärksten, die schon vorher zu den Schwächsten gehörten. Das Virus hat jene Ungleichheiten zutage gebracht, die lange vor ihm existierten, und hat sie verstärkt und beschleunigt.» (Aufgezeichnet Mitte April)
Conxa Borell, Prostituierte und Gründerin der Gewerkschaft von Sexarbeiterinnen
«Es gibt Frauen, die hungern. Das ist keine dramatische Übertreibung, ich meine das wortwörtlich: Sie haben kein Geld, um Essen zu kaufen.
Der Staat hat uns vergessen.
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter gehören zu jenen Gruppen, die am stärksten unter der Krise leiden. Denn sie können nicht arbeiten. Zu gross ist die Gefahr, sich mit dem Virus anzustecken und danach wochenlang auszufallen, dann, wenn das Land sich langsam wieder öffnet. Zudem sind rund 80 Prozent der Prostituierten in Spanien Migrantinnen, etwa aus Bulgarien, Nigeria oder Venezuela. Viele haben keine Dokumente, keine Arbeitsbewilligung. Kein Auffangnetz.
Der Staat hat uns vergessen. Doch zum Glück gibt es nicht nur die staatlichen Institutionen, sondern auch die Zivilgesellschaft. Wir von der Gewerkschaft haben im Internet einen Spendenaufruf lanciert. 15'000 Euro sind so zusammengekommen, dank kleiner Beiträge von Privatpersonen. Davon kaufen wir jetzt Lebensmittelpakete für die ärmsten Frauen und helfen ihnen, einen Teil ihrer Miete zu bezahlen.» (Aufgezeichnet Mitte Mai)
Pablo Simón, Politologe
«Ganz am Anfang, Mitte März, als der Alarmzustand ausgerufen wurde in Spanien, standen die Zeichen auf Versöhnung, auf Einigkeit. Das war bemerkenswert. Die spanische Politik ist nämlich von einer starken Polarisierung geprägt zwischen den linken und den rechten Parteien.
Spanien ist nicht mehr dasselbe Land.
Und dann ist da natürlich der Konflikt mit Katalonien. Doch das rückte in den Hintergrund, angesichts dieser Krise. Ich sah darin grosses gesellschaftliches Potenzial: Dass man die alten Konflikte überwinden oder zumindest verringern könnte.
Aber diese Hoffnung ist so schnell verflogen, wie sie gekommen ist. Mittlerweile gibt es keinen politischen Konsens mehr. Ich muss gestehen: Ich hätte nicht erwartet, dass das so rasch passiert.
Spanien ist nicht mehr dasselbe Land. Wir mediterranen Völker, wir treffen uns nicht in unseren Häusern. Wir treffen uns auf den Plätzen, im öffentlichen Raum. Und genau das dürfen wir jetzt nicht mehr tun. Unsere Art, einander zu begegnen, unsere Art, Freundschaften und Beziehungen zu pflegen, einander nahe zu sein, wird sich verändern.» (Aufgezeichnet Ende Mai)