«Ich lasse mich durch nichts davon abhalten, meine Familie zu sehen», sagt Jesse Lewis am Flughafen von Washington, D.C. Er ist auf dem Weg zum Thanksgiving-Fest seiner Angehörigen, den Warnungen der Experten zum Trotz. Millionen Menschen tun es ihm gleich.
Die US-Gesundheitsbehörde rät von solchen Reisen ab. Die Fallzahlen im Land wachsen seit Wochen exponentiell an. Bereits sind in den USA rund eine Viertelmillion Menschen am Coronavirus verstorben, jeden Tag kommen derzeit rund 2000 hinzu. Viele Spitäler sind an ihre Kapazitätsgrenzen gestossen.
Emotionale Tradition
Thanksgiving ist in den USA – mehr noch als Weihnachten – das Fest, das die ganze Familie über alle Generationen hinweg zusammenbringt. Mütter, Väter, Kinder, Grosseltern, manchmal auch Nachbarn und Freunde. Niemand will allein sein an diesem Tag.
Wer einmal Thanksgiving in den USA erlebt hat, kennt die emotionale Kraft dieses Festes. An vielen Orten herrscht eine herzliche Stimmung. Amerikanische Familien leben oft über das ganze Land verteilt. Aber für Thanksgiving reisen sie aus allen Richtungen an, das ist schon fast Pflicht.
Und das Essen: Wie man den Truthahn-Braten, die Füllung und die Beilagen am besten hinbekommt, wird im Vorfeld mit geradezu religiösem Eifer diskutiert. Den ganzen Feiertag über wird gegessen. Man plaudert darüber, wofür man im laufenden Jahr dankbar ist – oder streitet über Donald Trump. Wer nicht mehr reden will, schaut sich am Fernsehen das Football-Spiel an.
Fest im Freien
Die Behörden hatten in den letzten Tagen und Wochen die undankbare Aufgabe, den Menschen von diesem traditionsreichen Familientreffen abzuraten. Der amerikanische «Mr. Corona», Anthony Fauci, warnte noch am Vortag ein letztes Mal: Zusammenkünfte in Innenräumen müssten so klein gehalten werden wie möglich.
Ich weiss, wie hart es ist, auf die Familientradition zu verzichten, aber es ist unglaublich wichtig.
Wer nicht verzichten will, solle das Fest wenn möglich trotz Herbstwetter in den Garten verlegen, empfehlen Epidemiologen. Nur Menschen aus dem gleichen Haushalt sollten nahe beieinander sitzen. Sorgen bereiten den Experten vor allem die Studenten, die von Unis im ganzen Land anreisen. Junge Menschen ohne Symptome könnten ihre älteren Verwandten unwissentlich anstecken.
Auch Biden warnt
Von Noch-Präsident Donald Trump erhalten die Experten wenig Unterstützung. Er begnügt sich weitgehend damit, der Tradition folgend einen glücklichen Truthahn feierlich vor dem Schicksal als Festschmaus zu bewahren.
Anders Joe Biden. Am Mittwoch rief er die Menschen im Land zu äusserster Vorsicht auf. Auch er und seine Frau Jill würden dieses Jahr auf das sonst übliche grosse Familienfest verzichten und im kleinen Kreis zu Hause feiern, nur mit der Tochter und dem Schwiegersohn. «Ich weiss, wie hart es ist, auf die Familientradition zu verzichten, aber es ist unglaublich wichtig», betonte Biden.
Folgen in zwei Wochen
Die Aufrufe zeigen durchaus Wirkung. Laut den Behörden liegen die Reisebewegungen der letzten Tage hinter jenen des Vorjahres zurück. Aber in einer Umfrage von Axios/Ipsos gaben fast 40 Prozent der Menschen an, ihre Thanksgiving-Pläne trotz der Pandemie nicht ändern zu wollen.
Wie stark sich die vielen Familienfeste auf den Verlauf der Pandemie auswirken, wird man den Experten zufolge in zwei bis drei Wochen wissen. Auch für den Rest der Welt könnte dies wichtige Erkenntnisse liefern. So wird Thanksgiving zu einem makaberen Testlauf für das Weihnachtsfest.