«Die Epidemie ist wie ein Spiegel, der einem zeigt, wer jemand wirklich ist. Ich will die Scheidung», schreibt eine Weibo-Nutzerin. Wann es endlich vorbei sei, fragt eine andere Nutzerin. «Er ist den ganzen Tag zu Hause. Ich halte das nicht mehr aus.»
Auf der chinesischen Mikroblog-Plattform Weibo liessen die Chinesinnen und Chinesen während des Lockdowns ihrem Frust freien Lauf. Für den Schanghaier Scheidungsanwalt Qin Tao ist das keine Überraschung. In den Monaten Februar und März seien 70 Prozent der Anfragen, die er erhalten habe, auf die Viruskrise zurückgegangen.
«Wenn beide zuvor Arbeit hatten, sorgte das für Ablenkung. Wenn sie aber nicht mehr zur Arbeit gehen, gemeinsam in einer Wohnung leben müssen, können sie sich nicht mehr aus dem Weg gehen», sagt Qin Tao. «Dazu kommt, dass viele Menschen nun auch die nötige Zeit haben, sich über ihr Leben und ihre Beziehung Gedanken zu machen – und sich dann für eine Trennung entscheiden.»
Von jenen, die in den 1980er-Jahren geboren wurden, denken immer mehr, dass eine Ehe nicht von einem Zertifikat zusammengehalten werden muss.
Der Lockdown begann in China Ende Januar, in den chinesischen Neujahrsferien, als viele zu Besuch bei Familien und Verwandten waren. «In der Provinz Hubei war das besonders heftig. Menschen, die zur Neujahrszeit bei Familien und Verwandten zu Besuch waren, mussten wegen des Lockdowns gleich mehrere Monate dort bleiben. Das sind sich viele nicht gewöhnt, und es kommt zu Konflikten», sagt Qin.
Auch Familien, die die Neujahrsferien nicht bei den Grosseltern verbrachten, hätten Probleme. So ist es in China sehr verbreitet, dass die Grosseltern auf die Kinder aufpassen, weil beide Elternteile arbeiten. Wenn das mit dem Lockdown nicht mehr geht, steigt die Belastung für die Eltern.
Die Scheidungsrate hat in China in den letzten Jahrzehnten ohnehin zugenommen. Aktuell liegt sie bei 40 Prozent. Die Zunahme hat mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt zu tun, aber auch mit der Liberalisierung des Scheidungsverfahrens Anfang der Nullerjahre.
Während eine Scheidung für die ältere Generation noch mit einem Stigma behaftet war, gehen junge Chinesinnen und Chinesen laut Anwalt Qin Tao viel pragmatischer damit um. «Von jenen, die in den 1980er-Jahren geboren wurden, denken immer mehr, dass eine Ehe nicht von einem Zertifikat zusammengehalten werden muss.»
Häusliche Gewalt nimmt zu
Die chinesischen Medien berichteten in den letzten Wochen nicht nur über die Zunahme von Scheidungen, sondern auch über häusliche Gewalt. Die Anfragen hätten sich gehäuft, sagt Feng Yuan von der Nichtregierungsorganisation «Equality» in Peking.
Feng berät und unterstützt Opfer von häuslicher Gewalt. «In Beziehungen, in denen die Ehepartner nicht gleichberechtigt sind, ist das Risiko für Gewalt noch höher, wenn sie auf engem Raum miteinander leben müssen.» Leider sei es wegen des Lockdowns nicht immer einfach gewesen, Hilfe zu bekommen.
Wenn die Wohnsiedlung zu sei, könnten die Menschen nicht einfach bei jemand anderem unterkommen. Und in einigen Dörfern seien die Zufahrtsstrassen blockiert gewesen. «Auch gab es Fälle, in denen die Polizei, als sie um Hilfe gerufen wurde, einfach sagte, sie hätte wegen der Epidemie keine Zeit. Man solle sich doch später wieder melden. Das Problem wurde heruntergespielt.»
In Chinas Städten und Provinzen ist die Viruskrise am Abklingen. Die Menschen gehen wieder nach draussen. Die langfristigen Auswirkungen auf die Gesellschaft sind jetzt aber noch nicht abzusehen.