Die Corona-Pandemie hat auch Lateinamerika erreicht. Noch liegt die Zahl der offiziell bestätigten Fälle deutlich tiefer als in Europa. Aber Expertinnen und Experten rechnen mit einer hohen Dunkelziffer, denn es gibt zu wenig Tests. Die lateinamerikanischen Staaten seien nicht gerüstet für den Kampf gegen das Coronavirus, sagt die in Mexiko-Stadt lebende Journalistin Sandra Weiss.
Massnahmen wie Schulschliessungen, Quarantäne und Ausgangssperren würden nun sehr hektisch ergriffen, erzählt Weiss. Es gelte: «Je schlechter ein Staat institutionell – gerade im Gesundheitssystem – aufgestellt ist, desto radikaler sind seine Massnahmen.» Gleichzeitig spielen populistische Staatschefs die Gefährlichkeit des Virus herunter.
Von einer «Corona-Hysterie» sprach etwa der rechte brasilianische Präsident Jair Bolsonaro. Mexikos Präsident, der Linke Andrés Manuel López Obrador, foutiert sich um die hygienischen Vorsichtsmassnahmen. Das sei kein Zufall, sagt Weiss: «Populisten ist gemein, dass sie Experten und der Wissenschaft misstrauen und meinen, sie könnten alles mit Führungsstärke lösen.»
Beide Präsidenten hätten ihrer Wählerschaft ein robustes Wirtschaftswachstum versprochen und eine Eindämmung der aus ihrer Sicht ausufernden Staatsausgaben. «Die Pandemie wirft diese Versprechen jetzt über den Haufen.» Das verlange Flexibilität – die bei den beiden nicht im Übermass vorhanden sei.
Bolsonaros Beliebtheit im Keller
Die Reaktionen der Bevölkerung auf das präsidentschaftliche Bagatellisieren fallen unterschiedlich aus. Bolsonaros Popularität ist sehr schnell gesunken: Derzeit hat er noch die Unterstützung von etwa 30 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer. «In Brasilien hört man jetzt fast jeden Abend lautstarke Proteste gegen seine Politik», erzählt die Journalistin.
Neben der sinkenden Popularität habe der brasilianische Präsident aber auch die Kontrolle über Kongress und Gouverneure verloren: «Bolsonaro steht nun praktisch alleine da.» Die Gouverneure der einzelnen Bundesstaaten hätten deutlich drastischere Massnahmen als der Präsident ergriffen. Bolsonaros Umgang mit der Krise könnte ihn also die politische Karriere kosten, schätzt Weiss.
Hinter Lopez Obrador stehen noch mehr 50 Prozent der Mexikanerinnen und Mexikaner. «Die Bevölkerung macht in der Regel das, was der Präsident vorschlägt», so Weiss. Es gebe zwar Diskrepanzen zwischen Entscheiden der Gouverneure und denen des Präsidenten, aber im Grossen und Ganzen gehe es in Mexiko «noch relativ diszipliniert, ruhig und organisiert zu und her».
In Venezuela droht die Katastrophe
Anders in Venezuela: Dort drohe die humanitäre Katastrophe, sagt Weiss. Das Gesundheitssystem sei bereits vor längerem kollabiert. «Bei meinem letzten Besuch habe ich infizierte Operationssäle vorgefunden, es gab keine Medikamente und Instrumente mehr, nicht einmal mehr Seife», erzählt sie. Stimmen fordern deshalb, dass sich Präsident Nicolás Maduro mit der Opposition einigt und Hilfe anfordert.
Die lateinamerikanischen Staaten hätten einen grossen Vorteil: Eine relativ junge Bevölkerung, die nach aktuellem Wissensstand nicht so stark von der Corona-Pandemie betroffen ist. Aber der grosse Nachteil, der sie vereint, seien die maroden Gesundheitssysteme: «Sie können schnell kollabieren, wenn die Situation aus dem Ruder läuft», schliesst Weiss.