In Indien gehen die Corona-Zahlen derzeit so steil bergauf wie noch nie seit Beginn der Pandemie. Laut offiziellen Zahlen gab es am Dienstag über 160'000 Neuansteckungen. Das sind deutlich mehr als zu Spitzenzeiten in der ersten Welle mit bis zu 90'000 Ansteckungen täglich. Die Regierung hat nun für verschiedenen Impfstoffe eine Notfallzulassung gewährt.
Indien habe sich lange in einer falschen Sicherheit gewiegt, erklärt «Spiegel»-Korrespondentin Laura Höflinger: «Noch Anfang Januar hielt man die Pandemie fast für besiegt. Nur ganz wenige liessen sich impfen, obwohl es genug Impfstoffe gab. Die Regierung kaufte auch nur wenig Impfstoff ein.»
Noch Anfang Januar hielt man die Pandemie fast für besiegt.
Nun wird der Impfstoff zu Beginn der zweiten Welle schlagartig knapp, und es fehlen Millionen Dosen. Dass Indien als grösstem Impfstoffproduzent der Welt jetzt eine Impfstoff-Knappheit droht, hängt laut Höflinger zum einen damit zusammen, dass Anfang Jahr noch grosse Mengen in alle Welt verschickt wurden. Zum anderen habe es die Regierung verschlafen, die eigene Produktionskraft aufs Maximum hochzufahren und auch viele Impfstoffe lange nicht zugelassen.
Es wird zu wenig rasch geimpft
Indien hat 1.4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner. Geimpft werden aktuell rund 3.5 Millionen Menschen pro Tag. Mit diesem Rhythmus wären im Dezember rund 40 Prozent der Bevölkerung geimpft. Um die zweite Welle zu verlangsamen, müssten aber täglich zehn Millionen Menschen geimpft werden.
Die Regierung setzt jetzt vor allem aufs Impfen. Shutdowns sind ein Thema, aber einen grossen nationalen Lockdown wird es laut Höflinger wohl nicht mehr geben. Indien ging im vergangenen Frühling in den härtesten Lockdown der Welt. Er galt in einem Land, wo bis heute viele Menschen in kleinen Hütten leben, wenig Erspartes haben und vielleicht ein paar Tage über die Runden kommen.
Schrecken des Lockdowns wirken nach
Hunderttausende Wanderarbeiter machten sich damals zu Fuss und aus schierer Verzweiflung auf den Weg in ihre Dörfer. «Viele haben immer noch mehr Angst vor einem Lockdown als vor einer Corona-Ansteckung», so Höflinger. Die einzelnen Gliedstaaten würden jetzt über allfällige regionale Shutdowns entscheiden.
Viele haben immer noch mehr Angst vor einem Lockdown als vor einer Corona-Ansteckung
Indien feiert zurzeit «Kumbh Mela». Das in verschiedenen Jahresrhythmen stattfindende rituelle Fest wird mit einem Bad im Ganges begangen. Das dürfte die Corona-Lage verschärfen, schätzt Höflinger. An Spitzentagen tummelten sich 2.8 Millionen Menschen auf engstem Raum. Kaum einer trage eine Maske, und es gebe kaum Schutzmassnahmen.
Sporadische Tests zeigten, dass Hunderte positiv sind, so die «Spiegel»-Korrespondentin: Sie alle gehen dann wieder in ihre Dörfer und Städte zurück. Eine Absage war für die national-hinduistische Regierung unter Premier Narendra Modi kein Thema.
Indische Mutante als Ursache?
Über die Gründe, warum Indien in einer massive zweite Welle schlittert, wird viel spekuliert. Auch von einer indischen Mutante ist die Rede. Nun erhärte sich der Verdacht, dass eine solche Mutante vor allem für den Ausbruch in der Finanzhauptstadt Mumbai verantwortlich sein könnte, so Höflinger.
Es herrscht aber noch Unklarheit, weil Indien zu wenig testet und sequenziert. Offenbar verbreitet sich die Mutante aber schneller und kann auch die Immunität austricksen, die Menschen im letzten Jahr erworben hatten. «Das sind auch alarmierende Nachrichten für Europa», wie Höflinger bemerkt.