Die Streichung von Darwins Evolutionstheorie von den Lehrplänen türkischer Schulen sorgt für einigen Wirbel. Ähnlich wie christliche Kreationisten in den USA oder auch in Polen halten bestimmte muslimische Kreise die Evolution für unvereinbar mit der Schöpfung, wie sie im Koran beschrieben wird.
Der Vorsitzende der türkischen Bildungsbehörde, Alpaslan Durmus von der AKP, hat eine einfache Erklärung für den Entscheid: Es gäbe Hunderte, vielleicht Tausende wissenschaftliche Theorien. Man könne sie nicht alle behandeln.
Für die Behörde ist das Thema damit erledigt. Für säkular geprägte Türkinnen wie die 44-jährige Bengü dagegen noch lange nicht: «Worum es hier eigentlich geht, ist, dass wir uns Stück für Stück vom Ansatz einer laizistischen Bildung entfernen.» Bengü ist die Mutter des 12-jährigen Alp, der seine Schullaufbahn abschliessen wird, ohne je den Namen Charles Darwin gehört zu haben – dafür aber mit einem nigelnagelneuen Gebetsraum an der Schule, der gerade statt des dringend benötigten Chemielabors eingerichtet worden sei, sagt sie wütend.
Religiöse Ausrichtung wird forciert
«Mit solchen Methoden versuchen sie, den Menschen einen bestimmten Lebensstil aufzudrücken», so die Architektin weiter. «Sie wollen eine völlig neue Gesellschaft erschaffen.» Nicht erst die Darwin-Debatte zeigt, wie sehr das türkische Bildungssystem zum ideologischen Schlachtfeld geworden ist.
Mit solchen Methoden versuchen sie, den Menschen einen bestimmten Lebensstil aufzudrücken.
Präsident Erdogan träumte schon vor Jahren öffentlich davon, «eine fromme Generation heranzuziehen». Seine Anhänger jubelten. Säkulare Türken dagegen laufen Sturm, warnen vor einer Islamisierung, ja, «Erdoganisierung» der Schulen.
Die Entlassung von fast 35'000 Angestellten des Bildungsministeriums seit dem Putschversuch vor genau einem Jahr hat für sie denn auch vor allem ideologische Gründe. «Sie arbeiten seit Jahren daran, die Schulen in ihrem Sinne umzubauen», beschwert sich Kadir Gökmen, sozialdemokratischer Oppositionspolitiker aus Istanbul, über die Bildungspolitik der AKP.
Erdogan ist Absolvent einer Imamschule
«Sie haben versucht, den Englischunterricht abzuschaffen, säkulare Lehrer zu feuern und aufmüpfige Schulrektoren kaltzustellen», so Gökmen. Das wichtigste Bildungsinstrument der AKP aber scheinen die religiösen Imam-Hatip-Schulen, deren Zahl sich seit einigen Jahren explosionsartig vermehrt. Erdogan selbst zählt zu den Absolventen der einstigen Berufsschulen für Imame, die durch sein Einwirken inzwischen zur ganz normal anerkannten Matura führen.
Wir leben in einer überwiegend religiösen Gesellschaft, in der der Islam das wichtigste Wertegerüst darstellt.
Neben Mathematik oder Biologie stehen Fächer wie Arabisch, Korankunde und das Leben des Propheten Mohammed auf dem Stundenplan. Regelmässig wird gemeinsam gebetet. «Hier ist der Ort, an dem Träume und Hoffnungen mit der Kraft des Glaubens zusammengeführt werden», heisst es in einem Video, das für diese Schulform wirbt. «Wir leben in einer überwiegend religiösen Gesellschaft, in der der Islam das wichtigste Wertegerüst darstellt», verteidigt die muslimische Aktivistin Hülya Sekerci das Konzept. Das solle sich auch in der Bildung spiegeln.
Eltern sammeln Unterschriften dagegen
«Als jemand, der selbst auf eine Imam-Hatip-Schule gegangen ist, weiss ich die Werte zu schätzen, die ich von dort mitgenommen habe, und die mich bis heute prägen», sagt Hülya Sekerci. Das sehen freilich nicht alle Türken so. Dass sich die Zahl der Imam-Hatip-Schulen in den letzten 15 Jahren mehr als verzwölffacht hat und immer mehr Regelschulen praktisch über Nacht an das System angepasst werden, gleicht für Eltern wie dem 51-jährigen Irfan einer Katastrophe.
«Ich habe überhaupt nichts gegen Religionsunterricht», so der Vater, der gemeinsam mit anderen eine Unterschriftensammlung gestartet hat, damit die Schule seines Sohnes nicht umgewandelt wird. «Wenn mein Sohn zusätzlich zum normalen Stoff noch Arabisch und Korankunde lernen soll, ist das einfach zu viel. An den Imam-Hatip-Schulen geschieht das auf Kosten des Leistungsniveaus.»
Imam-Hatip-Schüler schneiden schlechter ab
Statistiken geben ihm Recht: Nicht nur, dass türkische Schüler bei internationalen Vergleichen ohnehin schlecht abschneiden. Beim Pisa-Test 2015 lagen die Imam-Hatip-Schüler noch einmal fast 100 Punkte unter dem türkischen Gesamtdurchschnitt. Ein Armutszeugnis. Die AKP-Regierung aber entscheidet offensichtlich aufgrund anderer Massstäbe: Die Zahl von über 3000 Imam-Hatip-Schulen soll weiter wachsen. Und auch die Anpassungen der Lehrpläne an anderen Schulen gehen weiter, wie die Streichung der Evolutionstheorie zeigt.
Jemand, der nicht von klein auf lernt, wissenschaftlich kritisch zu denken, wird auch später nicht nach seinen Rechten fragen.
Motiviert wird die Regierung dabei aber nicht allein von religiösen Gedanken, glaubt der regierungskritische Autor Ender Helvacioglu. Besonders den Feldzug gegen die Naturwissenschaften hält er für auffällig: «In der Wissenschaft geht es um ständiges Hinterfragen. Und die Evolutionstheorie ist die Grundlage dessen», so der Herausgeber der in Istanbuler Zeitschrift «Wissenschaft und Zukunft».
Teure Privatschulen oder Schulen im Ausland
«Jemand, der nicht von klein auf lernt, wissenschaftlich kritisch zu denken, wird auch später nicht nach seinen Rechten fragen», befürchtet Helvacioglu. «Und genau solche Leute wollen sie: Junge Menschen, die nicht untersuchen und nicht hinterfragen. Sie wollen eine Generation von ‹Dienern› heranziehen. Hörig nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber der Regierung und dem System.»
Türkische Eltern, die dabei nicht mitmachen wollen, haben es schwer. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind inzwischen auf teure Privatschulen oder sogar ins Ausland, um dieser sogenannten «Erdoganisierung» der Bildung zu entgehen. Die soziale Spaltung am Bosporus verstärkt sich dadurch nur noch mehr.