Die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer holte in der Talkshow «Anne Will» zum grossen Schlag aus. Nie würde die CDU eine Koalition mit der AfD eingehen: «Je eher wir das deutlich machen, umso besser ist es auch für unsere eigene Partei.» Der Grund: Die AfD habe rhetorisch den Boden für den mutmasslichen Mord am Kasseler CDU-Politiker Walter Lübcke mitbereitet, sie sei indirekt mitverantwortlich.
«Jemandem der sagt, einer solchen Partei, die keine klare Linie zu Rechtsextremismus zieht, könne man sich annähern, muss ich sagen: Er soll nur mal kurz die Augen schliessen und sich Walter Lübcke vorstellen. Der wird nie mehr auf die Idee kommen, dass man mit einer Partei wie der AfD als Christdemokrat zusammenarbeiten kann», sagte «AKK» am Sonntagabend.
Reiner Becker, der an der hessischen Universität Marburg über Rechtsextremismus forscht, geht nicht ganz so weit. Er sagt: «Man kann sicherlich keine Kausalität feststellen zwischen dem was gesprochen wurde und was in Kassel tragischerweise passiert ist.» Die sprachliche Enthemmung im Netz, aber auch durch die AfD, habe aber grosse Auswirkungen: «Auf einer Skala von 1 bis 10 würde ich den Anteil von Sprache und sprachlichen Entgleisungen weit über 5 sehen.»
Grenzen verschwimmen weiter
Der neue Chef des Bundesverfassungsschutzes Thomas Haldewang beklagte bereits Ende Mai, dass die Grenzen zwischen bürgerlicher Mitte, zwischen Wutbürgern, die aber immer noch Bürger sind, und dem gewalttätigen Rechtsextremismus verschwimmen würden: «Das Phänomen der Entgrenzung zwischen Extremisten und bürgerlicher Mitte ist zwar nicht ganz neu, ist aber auf der rechten Seite durch die Migrationsbewegung und die Debatten über eine angebliche Überfremdung und Islamisierung verschärft worden.»
Und der sächsische Verfassungsschutz stellt in seinem neuesten Bericht fest, dass Rechtsextreme in bürgerlichen Vereinen Führungspositionen anstrebten, um die Vereine zu unterwandern. Dass rechtes Gedankengut in einem Teil der Bevölkerung seit jeher Zustimmung finde, sei seit den 1980er-Jahren bekannt, sagt Becker.
Ich teile im Fall Lübcke die These des einsamen Wolfes nicht.
Aber der Flüchtlingsherbst 2015, die Polarisierung der Gesellschaft, eine massiv gestiegene Gewalttätigkeit, die Demonstrationen von Pegida und eine verbale Gewalt im Netz hätten rechtsextremes Gedankengut salonfähiger gemacht. Gerade durch das Internet seien die rechtsextremen Strukturen viel weniger sichtbar und weniger hierarchisch als zu analogen Zeiten: «Man findet heute viel Bestätigung für seine Taten oder Ideen im Netz.» Und deswegen kommt Becker zum Schluss: «Ich teile die These des einsamen Wolfes, der seine Taten völlig isoliert plant, nicht.»
Diskussion um Meinungsäusserungsfreiheit hat Unschuld verloren
Bundesverfassungschutz-Chef Haldenwang warnte im Mai fast schon prophetisch vor den realen Folgen virtueller Gewalt, «wenn menschenverachtende Parolen in verschlüsselten Foren zu Attacken auf Flüchtlingsheime werden oder das Abknallen von Menschen in Videospielen eingeübt und zu einem Amoklauf in der Realwelt wird.»
Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten hat die Politik eingeholt – die CDU, aber auch die AfD. Und die Diskussion um Meinungsäusserungsfreiheit im Netz hat in Deutschland ihre Unschuld verloren. 2015 entging die Kölner Oberbürgermeisterin mit knapper Not einem Attentat. 2019 ist das Glück aufgebraucht.