Auch an diesem Wochenende hat es wieder verschiedene Demonstrationen in Deutschland gegeben. Ein merkwürdiges Gemisch von Bürgern, die sich in ihren Grundrechten eingeschränkt sehen, Anhänger von Verschwörungstheorien sowie Rechts- und Linksextreme, ist auf die Strasse gegangen. Die Politik macht sich Sorgen, dass die Stimmung kippt, wie seinerzeit in der Flüchtlingskrise 2015. Zunächst hatte Merkels «Wir schaffen das» geradezu euphorische Zustimmung geweckt, dann schlug die Stimmung um wie bei einem Wettersturz, die AfD wurde gross, Pegida erreichte Rekordzahlen.
Eine Wiederholung von 2015?
Die Zahlen jetzt sprechen allerdings eine andere Sprache. Die AfD liegt in Umfragen zwischen neun und zehn Prozent, das ist knapp halb so viel wie zu ihren Rekordzeiten. Laut einer neuen Umfrage des «Spiegel» halten nur 19 Prozent der Befragten die Massnahmen der Bundesregierung für übertrieben, satte 70 Prozent finden sie angemessen, 9 Prozent halten sie sogar für nicht ausreichend.
Die Zahl der fundamentalen Staatskritiker ist nicht grösser als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Doch die Demonstrationen fallen jetzt, wo die Strassen leer sind, besonders auf. Und im Netz war die Zahl der Verschwörungstheorien stets gross; im Moment erhalten sie aber besonders grosse mediale Aufmerksamkeit. Doch Pflegepersonal, Künstler, die ihre wirtschaftliche Existenz zu verlieren drohen, oder Frauen, die in der Krise wieder an den Herd und die Kinder betreuen müssen, wurden auf den Strassen noch nicht in Massen gesichtet.
Die Stimmung kippt also – noch – nicht. Im Gegenteil: Die Coronakrise war bislang die Stunde der Exekutive. Es sei aber besonders gefährlich, dass sich normale Bürger und Rechtsextremisten an den Demonstrationen vermischten, heisst es immer wieder. Extremistisches Gedankengut könne so auf die bürgerliche Mitte überspringen, wie ein Virus. Das gab es allerdings auch 2018 bei den Demonstrationen in Chemnitz zu beobachten: Dass sich Bürger und Rechtsextremisten vermischten, ohne dass dies erstere störte.
Hotspot Stuttgart
Anders als im Gefolge der Flüchtlingskrise 2015 konzentrieren sich die grösseren Proteste diesmal auf den Westen, namentlich Stuttgart, und nicht den Osten Deutschlands. In der erwähnten neuen «Spiegel»-Umfrage halten 20 Prozent der Wessis und nur 13 Prozent der Ossis die Corona-Politik für übertrieben.
Solange es der Bundesregierung gelingt, die wirtschaftlichen Folgen abzufedern, solange die Menschen in Deutschland sich gesundheitlich ausreichend beschützt fühlen, so lange sind die aktuellen Proteste einer Minderheit mehr mit der aufgewühlten Oberfläche eines Meers im Sturm zu vergleichen.
Das kann sich allerdings ändern, wenn der Hurrikan der drohenden Wirtschaftskrise Deutschland erreicht. Die Geschichte hält einige beunruhigende Beispiele als Anschauungsmaterial bereit. Aber Geschichte muss sich nicht zwingend wiederholen. Im Moment sind es vor allem andere europäische Staaten, wie Italien und die EU insgesamt, die gefährdet sind. Das allerdings kann dann wiederum indirekt auch Deutschland treffen.