- Deutsche Medien haben in den vergangenen Wochen immer wieder von Spionageaktionen des türkischen Staates berichtet.
- Einzelne Imame des Moscheevereins Ditib hätten auf Geheiss von Ankara gespitzelt, die türkischen Generalkonsulate in Nordrhein-Westfalen hätten aufgefordert, Erdogan-Kritik zu melden, Schüler sollten kritische Lehrer filmen.
- Ein Augenschein im Bundesland Nordrhein-Westfalen zeigt: Das gegenseitige Misstrauen wächst, die türkische Gemeinde ist tief gespalten.
Die Realschule Boltenheide liegt mitten im Wald an der Grenze zwischen Solingen und Wuppertal. Inge Sassin, die Schulleiterin, erklärt gleich zu Beginn: «Diese Schule steht Prediger Gülen nahe.» Aber: «Wir haben kein Bild von ihm, kriegen keine Unterstützung und auch keine Anweisungen von ihm. Es gibt keine ungeschriebene Doktrin.»
Es gehe allein um das Bildungsideal. Die Schule steht unter staatlicher Aufsicht und wird zu knapp 90 Prozent auch von Nordrhein-Westfalen finanziert. Der Rest sind Spenden. Doch nach dem Putsch gegen Staatspräsident Erdogan letzten Sommer ist die Schule ins Visier von Ankara geraten.
Meine Kollegen fahren nicht mehr in die Türkei. Sie müssen damit rechnen, dass ihnen die Pässe abgenommen werden und sie nicht mehr zurückkehren können.
Es flogen Eier gegen die Schule und Eltern hätten ihre Kinder, wie Sassin schildert, abgemeldet: «Wir haben einen Schülerschwund von etwa 20 Prozent verzeichnet.» Nicht nur die Schülerzahlen brachen ein, auch Spender zogen sich zurück: «Zumal viele Banken, die Gülen nahe stehen sollen, in der Türkei geschlossen wurden.»
Angst herrscht auch unter den Lehrkräften. Sie fahren nicht mehr in die Türkei, sagt Sassin: «Alle meine Kollegen verzichten darauf. Denn sie müssen damit rechnen, dass ihnen die Pässe abgenommen werden und sie nicht mehr zurückkehren können.» Das sei keine überbordende Phantasie, sagt die Schulleiterin, sondern eine reelle Gefahr.
Boykottierte Gastronomen und Ladenbesitzer
Grund für die Attacken ist der Trägerverein der Schule. Präsident ist Necattin Topel, Apotheker in Solingen. Der Gülen-Sympathisant stellt fest, dass die türkischen Kunden ausbleiben: «Es sind geschätzte 90 Prozent. Die Leute sehen sich um, grüssen einen nicht mehr, sie ignorieren dich und laufen an dir vorbei.»
Finanziell trifft ihn das nicht, denn die überwiegende Mehrheit von Topels Kunden sind Deutsche, und es sind aus Solidarität sogar mehr geworden.
Andere Türken trifft es härter: «Es gibt diese Listen, die verteilt werden und in denen ich wohl auch stehe. Darin steht, welche Läden man nicht mehr besuchen soll.» Er wisse von Freunden in der Gastronomie oder im Lebensmittelverkauf, sagt Topel, die existentielle Probleme bekommen hätten.
Jetzt verstehe ich, wie es den Menschen vor 70 Jahren in Deutschland ergangen ist.
Finanziell hat Topel keine Angst, um seine physische Sicherheit schon, nachdem er einmal tätlich angegriffen wurde: «Ordnungshüter haben mir empfohlen, wachsam zu sein: Ein Blick aus dem Fenster, Kameras installieren – ich solle mich für alle Eventualitäten einrichten.» Das zu hören, macht einem natürlich Sorgen, so Topel. Es herrscht ein Klima der Angst.
«Ich weiss zum Beispiel von einer Denunziations-Hotline, die in einer türkischen Zeitung abgedruckt wurde.» Ein Kunde habe ihm etwa von einem Bekannten berichtet, der jemanden denunziert habe, schildert Topel: «Er soll gesagt haben, der Mann sei eigentlich sehr nett und habe ihm nichts getan. Aber es sei nun einmal Vaterlandspflicht, ihn zu denunzieren.»
Topel ist schockiert, sonst würde er diesen Satz nicht sagen: «Jetzt verstehe ich, wie es den Menschen vor 70 Jahren in Deutschland ergangen ist.» Für Topel ist es auch eine Art Stasi-Überwachung am eigenen Körper.
Erdogan-Anhänger sieht kein neues Phänomen
Die türkische Gemeinde in Deutschland ist gespalten. Aber das war sie schon immer, sagt der Anwalt Fatih Zingal, ein Erdogan-Anhänger: «Auch in der Vergangenheit hat man mit Menschen, die sich etwa der Terrororganisation PKK nahe gefühlt haben, nicht gesprochen.» Diese Spaltung in der türkischen Gemeinde existiere seit Beginn der Zuwanderung nach Deutschland, sagt der Anwalt.
Bald kommt Erdogan
Es geht ein tiefer Riss durch die türkische Gemeinde in Deutschland. Die Schlussfolgerung von Schulleiterin Sassin ist bestimmt nicht übertrieben: «Der Friede in Deutschland ist erheblich gestört. Es gibt viele türkische Mitbürger hier, und sie sind sich spinnefeind.»
Die Situation wird noch aufgeheizter werden, denn in Deutschland rechnet man mit einem Wahlkampfauftritt von Präsident Erdogan noch im März.